„Natur, Gott und der Teufel konnten den Körper eines Menschen zerstören“

Es gibt Erfahrungen, die sind für alle gleichermaßen nachvollziehbar und es gibt Erfahrungen, die sind das nicht. Es ist schwierig, an letztere zu glauben, wenn man sie selbst nie erlebt hat.

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Die Natur, Gott und der Teufel konnten den Körper eines Menschen zerstören, und die medizinische Fachleute hatten Mühe, zwischen den Ursachen zu unterscheiden.

(Seite 14)

Der Anfang des Zitats von Siri Hustvedt, der zitternden Frau, steht für die kulturellen Vorstellungen, die bestimmen, wessen Leiden in der Gesellschaft für legitim befunden wird, und es endet mit der Erkenntniss, dass Medizin und Forschung für viele Geschehnisse noch gar keine Begriffe haben.

Dieses und folgende Zitate suchte ich Anfang Februar heraus und versah sie mit langen Kommentaren für das Sciencestarter-Projekt «Migräne Sichtbarmachen». Die subjektiv erlebten Symptome der Migräne sind für außenstehende nicht sichtbar, nicht nachvollziehbar. Teilweise sind sie höchst individuell. Siri Hustvedt halluzinierte einmal beispielsweise ein kleines rosa Mänchen mit seinem rosa Ochsen, vielleicht sechs oder sieben Zentimeter hoch. Andere Leidende erleben außerkörperliche und göttliche Erfahrungen in einem vielleicht halbstündigen Aura-Anfall.

[Oliver Sacks] räumt […] «vernebelte Bereiche» ein, die den Rahmen «rigider Nosologien» [rigider Krankheitslehren] sprengen.

(Seite 172)

Die Zitate stehen also nicht mit einer einzelnen Erkrankung in Verbindung und sie stehen vielleicht besser für sich allein, ohne weitere Kommentare.

Es ist Aufgabe der Diagnose, «Krankheit» von «Person» zu abstrahieren. Masern sind das eine. Sie kommen und gehen. Die Flecken wandern von einer Person zur anderen. Die Ursache ist ein einziger Erreger. Aber wann wird Krankheit zur Person?

(Seite 177)

Organisch wurde zur Bezeichnung von Krankheiten verwendet, die eine bekannte Ursache haben, bei denen zum Beispiel Krampfanfälle gesehen und gemessen werden oder man Blindheit einer Hirnverletzung zuordnen kann, aber nicht für die, bei dem das nicht möglich ist. Das Auftreten sichtbarer Anzeichen von Konversionsstörungen im Gehirn der Patienten scheint viele Forscher in einem theoretischen Vakuum sitzengelassen zu haben.

(Seite 88)

Sicher ist es schwierig, an einen emotionalen Zustand zu glauben, den man selbst nie erlebt hat. Das ist etwas anderes, als an die Antarktis oder an Neuronen oder Quarks zu glauben. Auch wenn man von diesen Dingen keine persönliche Kenntnis besitzt, sie nie tatsächlich gesehen hat, sind sie doch Bestandteil unseres intersubjektiven kulturellen Wissens, auf das man sich verlassen kann. Unsere Gefühlswelt dagegen ist so innerlich, so eins mit dem, was sie ist, dass alles, was unter dem Begriff Normalität fällt, höchst subjektiv wird.

(Seite 153f)

[…] letztlich ist eine Halluzination nichts anderes als eine Erfahrung außerhalb der intersubjektiven Realität.

(Seite 187)

 

 

Zitiert aus:
Siri Hustvedt
Die zitternde Frau

rororo, 240 Seiten

ISBN 978-3-499-62756-9

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

6 Kommentare

  1. Die Medizin und die Psychiatrie sind in einer Zwickmühle. Einerseits müssen sie die menschlichen Funktionen standardisieren, um das kollektiv Normale vom kollektiv Unnormalen, als Störungen oder Krankheiten, unterscheiden zu können. Andererseits ist der menschliche Organismus derart komplex, dass das kollektiv Normale nur eine statistische Größe ist, so dass das individuell Normale vom individuell Unnormalen zu unterscheiden ist. Das kollektiv Unnormale kann individuell normal sein, beispielsweise Formen der Sexualität.

    In der Kognitionswissenschaft gibt es seit einigen Jahren eine Tendenz zur “embodied, embedded cognition” (ECC), die den Körper oder Leib (M.Merleau-Ponty) mit dem Geist integriert. Der Geist, sowie die Psyche oder Seele, ist nicht ohne den Leib als empfindenden, erlebenden, erfahrenden Körper mit seinen Möglichkeiten, Grenzen und Schnittstellen zur Umgebung (embedded) zu verstehen. Einer der Vertreter der ECC ist Shaun Gallagher. Selbstverständlich gibt es auch innerhalb der ECC wieder verschiedene Strömungen, je nach Setzung von Schwerpunkten und Perspektiven.

    Eine andere hinzukommende Dimension der Moderne ist die Menge an Informationen, die heute über die Medien auf die Sinne und den Geist einströmen. Charakteristisch für diese Informationen ist ihre Unsicherheit, Abstraktheit, Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit, Flüchtigkeit. Der Mensch hat nicht mehr die Zeit und die Möglichkeit, sie zu prüfen, ordnen, kategorisieren, bewerten, um sie in die eigene Lebenswelt einzupassen. Das Resultat ist ein Meinungssalat, mit Meinungskonkurrenz, überhöhten Erwartungen oder Lebenszielen, mit allgegenwärtigem Konfliktpotenzial und mit Angst und Stress.

    Es mag jetzt weit hergeholt sein, aber man könnte das desatröse Verhalten des Copiloten als Beispiel anführen und mit den Zitaten in Verbindung bringen.

  2. Höheres Bewusstsein als Alleinstellungsmerkmal des Menschen, viele Bewusstseinszustände und innere Erfahrungen gar als Alleinstellungsmerkmale von einzelnen Personen?
    Selbst erlebe ich gelegentlich, dass ich meine intuitive Annahme, die Andern tickten (bei allen politischen und weltanschaulichen Unterschieden) im Grunde gleich, gelegentlich revidieren muss. Dies zu erkennen ist gar nicht einfach, denn Gemeinsamkeiten wie die gleiche Sprache und ähnliche Überlegungen zu aktuelle Diskussionsthemen täuschen über die Unterschiede, die es zwischen Personen gibt, hinweg. Das Gegenüber mit dem man vielleicht gerade gescherzt hat, kann immer noch ein Monster, ein innerlich zerrissener Mensch, ein Pyro- oder Erotomane sein, ohne dass man das merkt.

    • Der Begriff Monster ist mehr als unangebracht, er ist verachtend und ignorant. Wem hier ein Wort fehlt, dem kann vielleicht “schwarzer Schwan” aushelfen. Er steht für ein Ereignis (positiv oder negativ), das als völlig unwahrscheinlich angesehen wird und massive Konsequenzen verursacht.

      Wir sind so sehr an eine Normalverteilung gewöhnt, dass wir Ausreißer als widernatürlich ansehen. Körpergewicht und -größe folgen so einer Gauß’schen Verteilung. Aber eben nicht alle menschlichen Eigenschaften oder gar Krankheitsverläufe. Doch sind es Menschen – nichts anderes.

      • “Der Begriff Monster ist mehr als unangebracht, er ist verachtend und ignorant.”

        Warum? Sie übertreiben ein wenig. Es gibt Monster, denken Sie sich ein aus – sehen Sie?

        Und außerdem, was ist an dem Wort verachtend? Die Kinder LIEBEN mich dafür, daß ich für sie jeden Freitag nachmittag im Kindergarten das Monster spiele!

        Monsterwellen, Monsterblackholes, Higgs-Bosonen, Humanbrainproject, Finanzmärkte, Gauck, …, you name it.

        • Menschen als ‘Monster’ zu bezeichnen ist halt von der Begriffs-Bedeutung her oft nicht passend, denn ‘Monster’ wären etwas öffentlich zu Zeigendes, etwas Darstellenswertes, vgl. ‘monere’, ‘monstrare’ wäre hier wohl das Frequentativum.
          Darüber, wer sinnhaft als Monster bezeichnet werden kann, gilt es zu streiten, dem Schreiber dieser Zeilen fielen allerdings einige Namen ein.
          MFG
          Dr. W

  3. Pingback:Gehirnkrankheiten: Anerkennung und Schutz statt Berufsverbot › Graue Substanz › SciLogs - Wissenschaftsblogs

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