Frauen in der Informatik 2/2: Kulturwechsel

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Laureates of mathematics and computer science meet the next generation
Heidelberg Laureate Forum

Dies ist die Geschichte, wie die School of Computer Science (SCS) der Carnegie Mellon University (CMU) in Pittsburgh, USA, von einem Informatikstudiengang mit geringem Frauenanteil bis 1995 – und zudem einer hohen Rate an Frauen, die aus dem Kurs in andere Fächer wechselten – zu einem Frauenanteil von 40% ab den frühen 2000er Jahren kam, mit Studentinnen, die den Studiengang dann auch mit überwältigender Mehrheit erfolgreich abschlossen. Mein Bericht basiert auf einem Interview mit Lenore Blum, einer Teilnehmerin am diesjährigen HLF, die bei einer Reihe der Änderungen, die zu dem erfolgreichen Wandel führten, in führender Rolle mit beteiligt war. Im ersten Teil der Geschichte, Frauen in der Informatik 1/2: Jenseits des bloßen Programmierens, hatte ich erzählt wie die CMU den Bewerberkreis vergrößert und die Zulassungskriterien so verändert hatten, dass sie zwar nach wie vor exzellente Studienanfänger bekam, aber eine größere Vielfalt innerhalb der Studierendenschaft erreichte. Aber das waren nur die ersten Schritte.

Minderheiteneffekte

Zu einer Zeit, als man Informatikstudentinnen noch mit der Lupe suchen musste, führte genau diese geringe Häufigkeit zu bestimmten Schwierigkeiten. An US-Universitäten beispielsweise ist es üblich, dass insbesondere die Bachelorstudenten in Wohnheimen oder anderen universitätseigenen Wohngelegenheiten auf dem Campus leben; bei der Carnegie Mellon University ist das für rund 2/3 der Bachelorstudenten so, und für die Studienanfänger sogar vorgeschrieben. Diese Häufigkeitsverhältnisse haben Konsequenzen: Männliche Informatikstudenten haben als Mitbewohner viel häufiger andere Informatikstudenten. Wer z.B. späts abends noch an schwierigen Kursaufgaben werkelt, kann schnell mal den Mitbewohner um Hilfe angehen. Dass eine Informatikstudentin in der gleichen Situation, aber mit fachfremder Mitbewohnerin, spät nachts noch einen Kommilitonen anruft, ist dagegen eher unwahrscheinlich – und könnte missverstanden werden. Noch wichtiger der Unterschied zwischen Fraternities und Sororities, also den sozialen Organisationen der Studenten bzw. Studentinnen. Solange Informatikstudentinnen rar sind, dürfte es deutlich schwieriger sein, ein älteres Sorority-Mitglied zu finden, das helfen kann, wenn es um die Kurswahl oder darum geht, welche Lehrer besonders gut sind und welche man besser meidet  – und fachbezogene Informatik-Ferienjobs dürften in Sororities schwieriger vermittelt zu bekommen sein. Eine Vielzahl kleiner Vorteile männlicher Studenten – nicht aufgrund von aktiver Benachteiligung und von Vorurteilen, sondern allein aufgrund der Zahlenverhältnisse.

Um diese Nachteile auszugleichen, und mit Unterstützung des Uni-Präsidenten Jared Cohon, des Dekans Raj Reddy und des Fachbereichleiters Jaes Morris, gründete Blum das Programm Women@SCS für die weiblichen Mitglieder der School of Computer Sciene. (Weitere Informationen liefert dieser Artikel.)

Gegenmaßnahmen!

Ein Schlüsselprogramm dabei ist Big Sister / Little Sister, also “Große Schwester / Kleine Schwester”, das weibliche Erstsemester mit ihren Kolleginnen aus höheren Semestern zusammenbringt, ergänzt durch das Grad/Undergrad Sisters-Programm, das Paare aus Bachelor- und Masterstudentinnen bildet. In beiden Fällen ist das Ziel, den jüngeren Studentinnen auf diese Weise Informationen, Ratschläge und Ermutigung zu bieten. Soziale Veranstaltungen wie regelmäßige Treffen oder Feiern/gemeinsame Aktionen bieten weitere Gelegenheiten für Diskussionen und Unterstützung. Webseiten, welche die “Women of…”, nämlich die an den verschiedenen Instituten der School of Computer Science tätigen Frauen vorstellen, schaffen zusätzliche Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme.

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Homepage von Women@scs an der Carnegie Mellon University

Über einen Beirat sind die Studentinnen auch direkt an der Organisation von Women@SCS beteiligt – das erwies sich nicht nur als stete Quelle neuer Women@SCS-Aktivitäten, sondern verschafft den betreffenden Studentinnen auch Führungs- und Organisationserfahrungen.

Nachdem sich die neuen Verhältnisse etabliert hatten – der Übergang entspricht der Klasse, die 2002 ihren Abschluss machte – stellten Blum und ihre damalige Doktorandin Carol Frieze (die inzwischen Direktorin des Women@SCS-Programms ist) männlichen und weiblichen Informatik-Studierenden dieselben Fragen, die bereits Margolis/Fisher gestellt hatten, als der Anteil der Studentinnen noch im einstelligen Bereich gelegen hatte. Auf Margolis/Fisher war ich in Teil 1 bereits eingegangen; zur Erinnerung: Die hatten unter anderem bei männlichen und weiblichen Studierenden einen Unterschied in der Grundeinstellung festgestellt, mit Männern eher an Computern an sich interessiert, Frauen eher an den Anwendungen.

Und siehe da: Die neue Studie erbrachte deutlich andere Ergebnisse als die alte. Diesmal war sich die Haltung von Männern und Frauen deutlich ähnlicher – es gab bei beiden Geschlechtern solche, die Computer und Programmieren per se faszinierend fanden und solche, die vor allem interessierte, was sich mit Technik und Software bewegen und verändern ließ. Die häufigste Antwort, was Informatik denn nun eigentlich sei, lief auf “Problemlösen” und “eine Denkweise” hinaus. (Die Studie ist hier online.)

Lass sie nichts verpassen!

Zu Women@SCS gehört auch Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, zum Beispiel die “Outreach Roadshow”, eine interaktive Präsentation, um Kindern, Lehrern und Eltern die verschiedenen Bereiche der Informatik nahezubringen. Die Studentinnen waren gerade in diesem Bereich sehr aktiv, und investierten beachtliche Zeit, um mit der Roadshow in Grundschulen und zu den jüngeren Jahrgängen der weiterführenden Schulen zu bringen. Als Blum sie fragte, warum – schließlich ist der Studiengang sehr zeitaufwändig, und die Zeit für zusätzliche Unternehmungen entsprechend knapp – bekam sie einige durchaus ernüchternde Antworten: Sie selbst seien eher durch Zufall auf das Informatikstudium gestoßen, sagten einige der aktivsten Studentinnen, aufgrund von Ermutigung durch die Lehrer, hätten sich einfach mal so beworben – und könnten sich rückblickend nichts besseres vorstellen! Das bedeute für sie aber auch gleich: Was ist mit den Schülerinnen, die kein solches Glück hatten, keine solchen Lehrer, keine näheren Informationen? Für diese Studentinnen war die Teilnahme am Outreach-Programm eine Möglichkeit dafür zu sorgen, dass andere Mädchen dieselbe Gelegenheit haben würden wie damals sie.

Dass das Outreach-Programm zusätzlich auch den studentischen Aktiven wichtige Erfahrungen vermittelt – vom Reden vor größeren Gruppen bis zur Rolle als Expertin – versteht sich von selbst. Women@SCS bietet übrigens auch Workshops und Training zu solchen Präsentationsfähigkeiten an.

Was Frauen nützt kann auch anderen nützen

Was Blum in ihrer Arbeit mit Women@SCS immer wieder begegnet, ist der Umstand, dass Frauen nicht die einzigen sind, die von den neuen Strukturen und Möglichkeiten profitieren. In vielen Fällen, so erzählt sie, hat Women@SCS das explizit gemacht, was vorher nur implizit den meisten Angehörigen der Mehrheit zugute gekommen war. Davon profitieren nun aber auch männliche Studenten, in Blums Worten: Was immer wir getan haben das sich als wichtig erwies, wurde sofort von einem weiteren Personenkreis aufgegriffen – zum Nutzen von allen. Ein gutes Beispiel ist die Beratungssitzung zu Beginn jedes neuen Semesters: eine Veranstaltung von und für Studierenden, Lehrpersonal muss draußen bleiben, in der die Studierende ihre Erfahrungen mit den anstehenden Kursen und Vorlesungen und auch mit spezifischen Hochschullehrern teilen. Ursprünglich als Ersatz für den informellen Erfahrungsaustausch gedacht, wie er vor allem männlichen Studenten zugutekommt (siehe oben), stieß diese Veranstaltung bald auch bei den männlichen Studierenden auf reges Interesse, und ist jetzt für alle Studierenden zugänglich.

Auf einem höheren Level hat die Universität neben Women@SCS jetzt noch Zuwachs durch SCS4ALL bekommen, eine von Studenten betriebene Organisation, welche die für Women@SCS entwickelten Programme allen Mitgliedern unterrepräsentierter Gruppen zugänglich machen will.

Und als nächstes…?

Für Blum ist die wichtigste Lehre aus ihrer inzwischen mehr als 15jährigen Erfahrung mit Women@SCS und früheren Initiativen, dass einfache Veränderungen auf lokaler Ebene große Konsequenzen nach sich ziehen können. Im Falle der School of Computer Science war es eben nicht nötig, im Kindergarten anzufangen und über die Jahre eine neue Generation weiblicher Informatiker heranwachsen zu sehen. Stattdessen reichte es aus, das Umfeld des Studienganges zu verändern – ohne dabei auch die Ansprüche zu verändern! – und der Unterschied war trotzdem enorm. Ein Schlüsselresultat von dem Blum denkt, dass es sich auch auf andere MINT-Felder übertragen lässt, war, dass die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in einem Umfeld, das von den Zahlen und von den zugänglichen professionellen Erfahrungen her ausgewogen ist, kleiner werden. Im Titel zweier ihrer Artikel haben Blum und Frieze das “Similarity is the Difference” genannt, “Der Unterschied ist die Ähnlichkeit”. Diesen Schluss jedenfalls legt der Vergleich der Befragung von Blum und Frieze mit der Margolis-Fisher-Studie nahe.

Was noch nicht geklärt ist – zumindest nicht mithilfe systematischer Studien – ist was mit Blums Studenten passiert, wenn sie in die Geschäftswelt überwechseln, insbesondere nach Silicon Valley, wo sich das Umfeld allen Beschreibungen nach überhaupt nicht geändert hat. Blum weist mich auf einen Artikel in der New York Times hin, etwas über eine Woche alt, in der es um das Arbeitsklima bei Amazon geht – mit einem verstörenden Kult von Verfügbarkeit rund um die Uhr, der insbesondere Angestellten mit Familie (vielleicht allgemeiner: mit einem Leben außerhalb der Arbeitswelt) zu schaffen machen dürfte. Unsystematische Rückmeldungen legen nahe, dass die Informatik-Studentinnen der CMU auch im Beruf durchaus erfolgreich sind, und Blum traut ihren Studentinnen zu, die geschlechtergerechte Atmosphäre des CMU-Studienganges auch mit sich nach außen zu tragen – und dort vielleicht eigene Entwicklungen anzustoßen.

Dieser Teil des Experiments läuft derzeit noch. Klar dürfte aber sein, dass die Erfahrungen mit dem Informatik-Studiengang an der CMU und den dortigen Erfolgen, ein auf Vielfalt angelegtes Umfeld zu schaffen, jedem zu denken geben sollten, der sich für seine eigene Wissenschaft, insbesondere in den MINT-Fächer, um Ausgewogenheit und Geschlechtergerechtigkeit bemüht.


Viele weitere Quellen sind auf der Artikel-Seite von Women@SCS zu finden.

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

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