Springen in sieben Minuten

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Irgendwo in Deutschland tagte am vergangenen Freitag eine Klassenkonferenz. Diese dient der Beschlussfassung zu pädagogischen Maßnahmen – in diesem Falle einer Evaluation einer Fördermaßnahme und der Entscheidungsfindung, ein Überspringen nach den Osterferien durchzuführen. Ich war dabei und davon berichte ich nun.

Worum es sich drehte: Maximilian ist 8 Jahre alt und gehört in die 2.Jahrgangsstufe. Er ist knappe 1,20 m groß, ein eher blass wirkender und drahtiger Junge. Seit dem Halbjahr wurde auf Initiative der Fachleiterin „Hochbegabung“ der Schule ein Pull-Out in Mathematik durchgeführt, so dass Maximilian in allen Mathematikstunden in die 3.Jahrgangsstufe „herausgezogen“ wurde.

Herausragende Leistungen in Mathematik seien der Indikator für diese Maßnahme gewesen, erläutert die Fachleiterin, die zugleich in beiden Jahrgangsstufen Mathematik unterrichtet. Trotz der bekannten Interaktionsschwierigkeiten – Maximilian habe ein ADHS, sei häufig impulsiv und leicht abgelenkt – sei dieser Schritt unumgänglich für die Entwicklung des Kindes gewesen. Mitnichten, kontert der offenkundig konträr eingestellte Klassenlehrer, der – so führt er weiter aus – dem damaligen Pull-Out nur zugestimmt habe, um deutlich zu machen, welche „immensen Probleme“ der Junge habe. Damit sollte dann jetzt auch Ruh sein mit dem Überspringen. Er sei zu jung, sei „noch nicht so reif“ und schreibe für einen Zweitklässler noch zu wenig, wenn es in Deutsch um ausführlichere Sachverhalte gehe. Religionslehrerin, Sportlehrer und Musiklehrerin fügen an, dass sie eine deutliche Besserung bei Maximilian sähen. Ja, er sei weiterhin nicht unauffällig, doch wirke er motivierter, lasse sich besser führen und mache einen ausgeglicheneren Eindruck. Das Interaktionsverhalten sei besser. Die Musiklehrerin erzählt, dass er es jetzt schaffe, seine Sachen selbstständig herauszuholen, ohne dass sie ihm beim Suchen im Ranzen helfe.

Noch immer höre ich nur zu, schaue mir den Wortwechsel an. Die Fachleiterin Hochbegabung will vom Klassenlehrer wissen, welche Probleme in Deutsch und in Sachunterricht bei Maximilian konkret bestünden, und fügt an, dass es ja die Möglichkeit gebe, über zusätzliche Maßnahmen „hier zu optimieren“. Dieser scheint ein wenig zu straucheln, arbeitet dann einige Punkte ab, die ich wie folgt erinnere:

  1. Schriftbild ist gerade so lesbar
  2. Maximilian zählt bei Wörtern die Anzahl der Buchstaben ab, um möglichst wenig zu schreiben
  3. Maximilian braucht länger als Mitschüler beim Ausmalen
  4. Er ist nach wie vor unruhig und ablenkbar

Während ich denke, dass dies weder Ausschlusskriterien noch Indikatoren für ein Überspringen sind, zieht die Fachleiterin einige Blätter hervor und führt aus, dass exakt diese Punkte bereits schon einmal genannt wurden. Und noch „Aufstehen im Unterricht“, „Zwischenrufe, die aber meist zur Sache gehören“ und „Alberei“. Die Religionslehrerin fügt noch hinzu, dass Maximilian bei ihr wirklich nicht mehr so unruhig und ablenkbar sei wie früher.

Was ich denn dazu sagen könne, brummt der Klassenlehrer mir zu. Nun, meine Stellungnahme liege ja vor, schicke ich voraus und will kurz meinen Standpunkt umreißen, als er mich unterbricht: „Gut, dann springt er eben. Aber dann kann ich in Deutsch nicht garantieren, dass er eine 2 bekommt“. In gefühlten sieben Minuten war damit die Klassenkonferenz gemacht. Einstimmiger Beschluss: Maximilian springt nach den Osterferien komplett in die 3.Jahrgangsstufe.

Angefügt sei: Bei Maximilian gibt es einen Vorbefund mit der Diagnose ADHS und Hochbegabung aus einem Sozialpädiatrischen Zentrum; dann eine Diagnostik vom März 2015 mit einer sehr hohen Begabung (IQ 128-132) und Auffälligkeiten in der (akustischen) Interferenzkontrolle. Die Vordiagnose ADHS bestätigt sich, pädaudiologischer Befund weist auf „leichte Auffälligkeiten im Sinne einer Diskriminationsschwäche“ hin. Maximilian kennt alle Grundrechenarten, Zahlenraum bis 10000, Bundesländer, Hauptstädte, besondere Gebirge. Rechtschreibung sehr gut, „wortkarges“ Schreiben – er zählt tatsächlich Buchstaben ab, bevor er ein Wort bzw. einen Satz schreibt, diesbezüglich kolossale Anstrengungsvermeidung. Verkrampfte Stifthaltung, Handschrift krakelig, aber lesbar. Sozial gut in Kontakt mit Mitschülern, kaum Konflikte. Im Unterricht impulsive Zwischenrufe, motorische Unruhe ist bestens sichtbar.

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Veröffentlicht von

Götz Müller ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter des Instituts für Kognitive Verhaltenstherapie (IKVT). Er arbeitet beratend und diagnostisch mit Familien hoch begabter Kinder und Jugendlicher. In der psychotherapeutischen Arbeit beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit dem Underachievement bei Hochbegabten, hier insbesondere bei Jugendlichen.

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