ALLEz nach Tschechien!

Prag - Blick auf die Karlsbrücke

Viele tschechische Ärzte arbeiten lieber in Deutschland als in Tschechien. Doch einer ging zurück in die Heimat – und entkam so unserer hedonistischen Tretmühle, auch bekannt als Zufriedenheits-Hamsterrad. Die tschechische Nationalelf darf ebenfalls wieder heimreisen, wenn auch aus anderen Gründen.
scilogs_em2016Sie sind rund, haben ungefähr den Durchmesser eines Fußballs und sehen aus wie die Hostie für Goliath: Karlsbader Oblaten (tschechisch Karlovarské oplatky). Gäbe es diese süße Versuchung tatsächlich beim Abendmahl, könnten sich Kirchen vermutlich bald nicht mehr vor Kundschaft retten.

Deutschsprachige Böhmer erfanden im 18. Jahrhundert die knapp 20 cm durchmessende zweilagige Riesen-Waffel aus Mehl, Zucker, Karlsbader Thermalwasser, Haselnuss- und Mandelsplittern oder Schokoladenfüllung. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Gebäck zum beliebten Mitbringsel Karlsbader Kurgäste für Freunde und Familie.

Ich hatte mal einen tschechischen Kollegen im Krankenhaus. Wenn er von einem seiner leider viel zu seltenen freien Wochenenden zurückkam, gab es wieder Karlovarské oplatky für den ganzen Kreißsaal. Ich stand damals noch ziemlich am Anfang meiner Facharztausbildung und habe viel von diesem Kollegen gelernt, klinisch und menschlich. Leider blieb er nicht lange in Deutschland, trotz seines gut bezahlten Uni-Jobs. Nach nicht einmal sechs Monaten ging er wieder zurück nach Prag. Warum?

Prag - Blick auf die Karlsbrücke
Die Karlsbrücke (tschechisch Karluv most), eine der ältesten Steinbrücken Europas über die Moldau (Vltava), zieht heute Menschen aus aller Welt an. Foto: Karin Schumacher, Medicine & More 2016.

Tschechische Ärzte

In Tschechien herrscht Ärztemangel. Und Ärzteschwund. Wen wundert’s, wenn nur wenige Kilometer weiter westlich im Nachbarland Deutschland ebenfalls dringend Mediziner gesucht werden. Bezahlung, Ausstattung, Arbeitsbedingungen – alles scheint hier besser. Die zugrundeliegenden Probleme werden so allerdings nicht gelöst – weder in Tschechien noch in Deutschland.

Das Durchschnittsalter tschechischer Ärzte liegt mittlerweile bei Mitte 50. Berufsanfänger verdienen weniger als 1000 Euro pro Monat. Davon kann auch in Tschechien kaum jemand leben, selbst wenn Assistenzärzte in einer Klinik in der Regel eh nicht viel zum Leben brauchen.

Dennoch möchte manch einer vielleicht eine Familie gründen und auch ernähren. Oder einfach nur einige seiner Stunden nach seinem eigenen Geschmack gestalten.

Trotz allen Vorzügen, die Deutschland bietet, hielt es mein ehemaliger Kollege nicht lange aus bei uns. Für uns war das ein großer Verlust. Nicht nur, dass nun ein Arzt für die Nachtdienste fehlte, wir hatten auch alle von seinem “klinischen Blick” profitiert, der oft ohne große Apparatediagnostik umgehend die richtige Diagnose fand.

Leider hatte er bald das Pendeln satt. Seine Familie wohnte weiterhin in Prag. Seine Frau ist ebenfalls Ärztin. Gemeinsam verdienen sie genug und können etwas in ihrer Heimat bewirken. Geld kann zwar Wohlstand schaffen, zum Glück allein reicht es nicht.

Der Happiness-Effekt…

Der Harvard-Psychologe Dan Gilbert untersuchte Lottogewinner und stellte fest, dass ihr Glücksgefühl nach durchschnittlich drei Monaten wieder verschwand. Nur drei Monate nach einem großen Glücksfall war die Stimmung wieder genauso vergnügt oder verdrossen wie vorher.

Zum Glück trifft dies auch für das Unglück zu. Auf diese Weise hilft uns Mutter Natur beispielsweise, den Verlust einer geliebten Person zu überwinden. Für Schicksalsschläge ist es also gut, dass sich das Wohlbefinden nach einiger Zeit wieder einpendelt. Doch wie steht es mit Zeiten, in denen es uns gut geht?

… und das Zufriedenheits-Hamsterrad

Was uns heute noch zufrieden macht, nehmen wir in einigen Monaten als selbstverständlich hin. Wir bekommen Lust auf etwas Neues.

Wir arbeiten und arbeiten, leisten uns immer mehr schöne Dinge und werden doch nicht glücklicher. Psychologen nennen diesen Effekt “hedonistische Tretmühle” – das Zufriedenheits-Hamsterrad.

Wege aus der Tretmühle

Um die Zufriedenheit zu bewahren oder sogar langfristig zu verbessern, gibt es einige Möglichkeiten, ohne dabei ständig in die Hamsterrad-Falle zu tappen.

  • Vorsicht vor materiellem Glück. Es verhält sich wie ein flüchtiges Gas, das immer wieder frisch vor Ort produziert werden muss: z.B. Gehaltserhöhungen, Lottogewinne, Schmuck, Fußballmeisterschafts-Pokale, Medaillen, Autos und Häuser, die nicht nur ihrem Zweck dienen.
  • Vermeidung von Negativem. Verzicht auf Dinge, an die sich kaum ein Mensch gewöhnen kann und / oder die sich nicht ändern lassen. Hierzu zählen beispielsweise chronischer Stress, Pendelverkehr, cholerische Chefs, Lärm, Schad- und Gefahrenstoffe.
  • Selbstbestimmung und Sinn statt Geld und Geltung. Langanhaltende positive Effekte entstehen vor allem dadurch, wie wir unsere Zeit verbringen. Wenn wir etwas tun, das unserem Leben einen Sinn gibt und das auch noch Spaß macht, können wir gern auf einen Teil unseres Einkommens verzichten. Statt alle zwei Jahre ein neues, noch schickeres Auto kaufen zu müssen, können wir es uns dann sogar leisten, unsere Zeit in wahre Freundschaften zu investieren.

Mein tschechischer Ex-Kollege war hier ein gutes Vorbild – er folgte seinem Herzen, auch für weniger Gehalt und Prestige. Dafür gewann er Autonomie und Möglichkeiten, den Sinn seines Lebens selbst zu bestimmen.

Außerdem verzichtete er auf die vielen Stunden im Auto, einem der schlimmsten Unzufriedenheitsstifter unserer Zeit. Kein gesunder Mensch gewöhnt sich an Pendelverkehr – wissenschaftliche Studien belegen dies immer wieder. Bluthochdruck, Übergewicht, Stress statt Sport- wer nicht (weiter) darunter leiden will, muss Wege finden, um Staus und lange Wegstrecken zu meiden. Natur und Gesundheit werden es danken.

Lasst uns alle von der Weisheit meines tschechischen Ex-Kollegen profitieren. Danke, David!

Adieu les Tchèques!

Und die tschechischen Fußballer? Auch die dürfen wieder nach Hause, wenn auch ein wenig aus Pech: Mit Spanien, Kroatien und der Türkei trafen sie in der Vorrunde auf einige der mächtigsten Mannschaften, wie Michaela Brohm im Nachbarblog Positive Psychologie und Lernen eindrücklich am Beispiel des Titelverteidigers Spanien beschreibt. Da hat die Schweiz, mein anderes Allez-les-Blogs-Land, diesmal ein glücklicheres Los gezogen: Die Eidgenossen dürfen erstmalig auch in der nächsten Runde mitspielen und damit schweizerische Fußballgeschichte schreiben.

Trotzdem die Tschechen nach ihrer gestrigen 0:2 Niederlage gegen die Türkei jetzt als Gruppenletzter heimreisen müssen, sollte bei ihnen nach spätestens drei Monaten die Enttäuschung verflogen sein. Bis dahin haben sie bei Bedarf als süßen Trost original Karlovarské oplatky. In Fußballkreisen vermutlich noch beliebtere tschechische Spezialitäten empfehle ich aus medizinischen Gründen (Gefahr der Überdosierung mit Folgen) hier lieber nicht.

Quelle / weiterführende Literatur:

Daniel Gilbert: Ins Glück stolpern: Suche dein Glück nicht, dann findet es dich von selbst. Goldmann Verlag (2008). 448 Seiten. ISBN 978-3442154883. Originaltitel: Stumbling on Happiness (P.S.). Harpercollins Publishers (2006). 352 pages. ISBN: 978-0007183135

 

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Veröffentlicht von

Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

6 Kommentare

  1. Aja, sehr nett, vielen Dank für diesen WebLog-Artikel.
    Geld macht sozusagen nur glücklich, wie man es nicht nicht hat.
    MFG
    Dr. Webbaer (der allerdings auf Oblaten gerne verzichtet und stattdessen auf Leichtbier mit dem Stamwürzegehalt 8 bis 10 Grad gelegentlich zurückgreift, auf Osmička und Desítka)

  2. Pingback:Deutschland: Vorsicht, Fußballfieber! › Medicine & More › SciLogs - Wissenschaftsblogs

  3. Oder mal anders kommentiert :

    Die Tschechei [1], ist Česko und Mitteleuropa, wie der Zufall es so will, kennt sich Dr. W auch hier ein wenig aus, auch weil u.a. auch d-sprachig.

    Niemals hat es einen “westlich”-aufklärerischen Staat gegeben, dessen Angehörige als “arme Schlucker” der hier gemeinten gesellschaftlichen Veranstaltung derart ergeben, wie die Tschechen, als “West-Slawen”.

    Es wird hier auch grau geworden, wenn der sittlich niedrige Islam in der BRD eingeladen wird, wie er eingeladen worden ist.

    MFG + schöne Woche,
    Dr. Webbaer (der i.p. Tschechei bereit stehen bleibt d-sprachig ein wenig zu erklären)
    *
    Es heißt ‘Česko’ oder Tschechei, nicht ‘Tschechien’, ‘Tschechien’ ist seinerzeit vom bundesdeutschen “Spiegel” durchgesetzt worden, Dr. W weiß nicht, warum, es war falsch.

    PS:
    So schaut’s besser aus.

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