Theorien, Modelle, Experimente 3/3: Experimente [Updated]

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… aber nicht einfacher
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Screen shot 2014-01-25 at 3.00.14 PMIm ersten Teil dieser dreiteiligen Kurzserie zu Grundbegriffen der Wissenschaft – mit besonderem Augenmerk auf die Physik – hatte ich den Zusammenhang von Phänomenen und ihren vereinfachten Abbildern, den Modellen beschrieben. Im zweiten Teil war ich von dort auf die Verallgemeinerungen gekommen, nämlich die Naturgesetze, und auf Möglichkeiten, die Gültigkeit der Naturgesetze zu überprüfen. Hier, im dritten und letzten Teil, geht um gezielte Experimente, die in den Naturwissenschaften bei dieser Überprüfung eine entscheidende Rolle spielen. Experimente sind ein zentrales Element der Naturwissenschaften. Tatsächlich wird der Beginn der modernen Naturwissenschaften üblicherweise zu jener Zeit angesetzt, ab der das experimentelle Vorgehen in der Naturwissenschaft die Hauptrolle zu spielen beginnt – also in etwa bei Galileo Galilei (rechts Abb. 17 aus dessen Discorsi von 1635/36 zu einem sich durchbiegenden Balken).

Experimente

Die Stahlkugel, die ich aus nicht allzu großer Höhe fallen lasse, ist keine spontane Beobachtung dessen, was dort draußen in der Welt geschieht, sondern eine gezielte Manipulation der Welt, die mir helfen soll, aussagekräftige Beobachtungen zum Überprüfen von Theorien vornehmen zu können: ein Experiment.

Bei einer Beobachtung ist man im allgemeinen darauf angewiesen, was gerade passiert. Bei einem Experiment führt man ganz bestimmte Umstände gezielt herbei, präpariert sich sozusagen einen ganz bestimmten Teil der Welt heraus, um ihn genauer untersuchen zu können. (Nicht alle Naturwissenschaften haben diesen Luxus – die Astronomie beispielsweise nur ganz ausnahmsweise, wie schon in Astronomisches Grundwissen Teil 1 beschrieben.)

Und weil es dafür, dass ich mit meinem einfachen Modell der Situation die von mir ins Auge gefasste Theorie überprüfen kann, wichtig ist, dass ich in der geschilderten Art und Weise alle möglichen weiteren Wechselwirkungen und Einflüsse – im Hinblick auf mein Ziel sind dies sämtlich Störeinflüsse – klein halte, ist es eine wichtige Aufgabe geschickter Experimentatorinnen, Experimente auch in dieser Hinsicht gezielt zu planen. Wenn sie sich um elektromagnetische Einflüsse sorgen, kann ein schützender Faraday-Käfig helfen; wenn Luftreibung bzw. Auftrieb stören könnten, kann man Form und Dichte des Fallkörpers geeignet wählen oder das Experiment gleich in einer Vakuumkammer stattfinden lassen, und so weiter und so fort. Optische Bänke und ähnliche dämpfend gefederte Tische sind Usus, wenn empfindliche Experimente nicht durch Erschütterungen gestört werden sollen. Im Extremfall wird gleich ein extra Fundament für die experimentelle Ausrüstung angelegt, das nicht mit den Außenwänden des Laborgebäudes verbunden ist, so dass am Gebäude rüttelnder Wind keinen Einfluss nehmen kann.

Dieser Umgang mit Störeinflüssen ist wichtiger Teil der Kunst des Experimentierens – und erfordert ein gehöriges Maß an Kreativität und Wissen. Nachbesserungen und Schutzvorkehrungen sind dabei das eine; die wahre Meisterschaft zeigt sich oft darin, bereits den Experimentalaufbau so zu wählen, dass die Größe, die man zu messen hofft, möglichst ungestört zutage tritt.

Modelle für Messgerätschaften und Daten

fallversuchEinen Aspekt der Modellierung und der Durchführung von Experimenten hatte ich bislang noch nicht erwähnt. In einem physikalischen Experiment geht es darum, Daten zu erfassen und Messungen durchzuführen. In unserem einfachen Fallversuch könnte das beispielsweise bedeuten, dass wir den Fall des betrachteten Körpers mit einer Hochgeschwindigkeitskamera verfolgen wie in dem Versuch, den Teilnehmer unseres Internationalen Sommerpraktikums am Haus der Astronomie letztes Jahr durchgeführt haben – ein Beispielfilm ist rechts zu sehen. Der Metallkörper fällt – in diesem Falle ein bisschen schief – vor einem Streifenmuster mit Streifenbreite 1 cm vorbei, an dem sich sein Fortschritt von Bild zu Bild verfolgen lässt.

Auch diese vom Prinzip her sehr einfache Messung ist, wenn man genau hinsieht, sehr kompliziert: Die Kamera hat einen Chip, der auf Basis der Quantenmechanik, Teilgebiet Festkörperphysik einfallendes Licht in elektrische Signale umsetzt; daraus wird, in diesem Falle unter Anwendung eines Kompressions-Algorithmus, ein digitales Bild mit nicht allzu feinem Pixelgitter erstellt. Das Licht selbst fällt auf den Chip durch ein komplexes Linsensystem. Die mechanischen Bestandteile sind je nach Gravitationseinfluss etwas unterschiedlich zueinander angeordnet; der Boden überträgt die leichten Erschütterungen einer im ersten Stock laufenden Mitarbeiterin auf die Kamera; aufgrund der herrschenden Temperatur vibrieren die Teile von Kamera und Stativ jeweils ein winziges bisschen. Der Fallkörper kann etwas Drall mitbekommen (in dem Beispiel rechts rotiert er anscheinend etwas im Uhrzeigersinn). Weitere Einflüsse haben die relativen Abstände der Bildbestandteile (Fallkörper vs. Streifenmuster) und die Orientierung der Kamera relativ zu Fallkörper und Streifenmuster.

All das bis ins Einzelne zu beschreiben ist unmöglich. Bei Experimenten gibt es daher noch einen weiteren wichtigen Teil der Modellbildung: ein Modell für den Ablauf des Messvorganges selbst, etwa für die Gerätschaften, mit denen die Messung vorgenommen wird. Man kann diese Modellbildung auch anders betrachten: Letztlich vergleichen wir die experimentellen Daten mit unserem theoriebasierten Modell der vermessenen Situation. Dazu brauchen wir ein Modell dieser Daten – also Aussagen dazu, wie sich diese Daten aus dem Experimentiervorgang ergeben haben.

Einen Teil des Modells für die Daten formulieren Physiker in der Regel nicht bewusst als Modell, wie sich aus der gegebenen Situation die gemessenen Daten ergeben, sondern exakt in der Gegenrichtung: Physiker geben an, wie sie aus den direkt gemessenen Daten Werte für die zu messenden physikalischen Größen bestimmen, die sie interessieren. Jedes Rezept für diese Art von Rechnung enthält implizit ein Modell und vereinfachende Annahmen dafür, wie die gemessenen Daten entstanden sind.

Der Übergang von den Rohdaten, die man direkt von den Messinstrumenten erhält, zu vereinfachten, oftmals bereits physikalisch relevanten Größen, wird als Datenreduktion bezeichnet. Stör- oder verzerrende Einflüsse der verwendeten Messgeräten werden dabei weitgehend herausgerechnet – oft mithilfe von zusätzlichen Messdaten, die zu exakt diesem Zweck aufgenommen wurden. In der Datenreduktion sind alle Umformungen und Korrekturen enthalten, die spezifische Eigenschaften des Messverfahrens bzw. des Messinstruments betreffen. In den Schritten, die man nach der Datenreduktion vornimmt, sollten diese Eigenschaften nicht mehr auftauchen.

Gerade weil es unmöglich ist, alle Einzelheiten eines Messinstruments und damit alle (man hofft: kleinen) Störungen zu modellieren, die sich in die Daten einschleichen, kommen bei der Auswertung statistische Verfahren zum Einsatz, die helfen, den Einfluss der Summe vieler kleiner Störungen quantitativ abzuschätzen. Auf die Grundlagen dieser Verfahren gehe ich in einem weiteren Blogbeitrag später noch genauer ein.

Typisch für die Physik ist, dass das Endergebnis bei der Auswertung der Messergebnisse kein einzelner Wert, sondern pro Messergebnis ein bester Wert (oft ein Mittelwert) plus eine Angabe dazu ist, wie sicher dieser Wert ist. Letztere Angabe könnte beispielsweise lauten, dass der tatsächliche Wert für eine bestimmte Größe mit einer bestimmten (ebenfalls angegebenen) Wahrscheinlichkeit in einen bestimmten (ebenfalls angegebenen) Wertebereich rund um den als beste Schätzung angegebenen Wert fällt. Diese Angaben zur Messunsicherheit (manchmal ist, durchaus irreführend, vom Messfehler die Rede), ergeben sich direkt aus dem für die entsprechende Messung gewählten Modell der Daten.

Ohne Angaben zur Messunsicherheit ist eine physikalische Messung nichts wert, denn ohne diese Angaben ist es unmöglich, die Bedeutung eines Messergebnisses zu beurteilen und insbesondere z.B. zu entscheiden, ob ein bestimmtes experimentelles Ergebnis mit einer gegebenen Theorie bzw. einem daraus abgeleiteten Modell vereinbar ist oder nicht.

Gültigkeitsbereiche von Theorien

Für die Physik – analog ist es in anderen Wissenschaften – sind die etablierten Theorien, also die gut bestätigten Zusammenstellungen von Naturgesetzen, so etwas wie das Destillat unseres Wissens über die Natur. Dass etwa die Mechanik oder die Elektrodynamik oder die Quantenmechanik eine beeindruckende Vielzahl von Phänomenen mit großer Genauigkeit zu beschreiben vermögen – und das auf Basis von nur wenigen Gleichungen – legt nahe, dass wir mit diesen Theorien wirklich so etwas wie grundlegende Strukturen unserer Welt gefunden haben.

Allerdings haben Theorien bei aller Erklärungsmacht jeweils auch Grenzen. Zumeist sind es bestimmte Parameter, anhand derer sich die Gültigkeitsbereiche der Theorien abstecken lassen. Die klassische Mechanik beispielsweise liefert exzellente Beschreibungen – Modelle, die alle Prüfungen hervorragend bestehen – solange die Geschwindigkeiten, die dabei vorkommen, deutlich kleiner sind als die Lichtgeschwindigkeit. Nahe der Lichtgeschwindigkeit werden Effekte wichtig, anhand derer sich die Spezielle Relativitätstheorie von der klassischen Mechanik unterscheidet.

Die Spezielle Relativitätstheorie wiederum stößt an ihre Grenzen, sobald starke Gravitationsfelder ins Spiel kommen. Dann liefert die Allgemeine Relativitätstheorie die richtigen Vorhersagen. Allgemeine Relativitätstheorie, Spezielle Relativitätstheorie und klassische Mechanik bilden so etwas wie eine Theorienkette – die jeweils nächste Theorie ist als Grenzfall in der jeweils übergeordneten Theorie enthalten.

Es gibt noch eine weitere Grenzfall-Kette, und die betrifft Situationen, in denen winzige Größenskalen eine Rolle spielen. Dort weicht die Natur zunehmend von dem ab, was die klassische Mechanik vorhersagt, sondern folgt stattdessen den – durchaus gewöhnungsbedürftigen – Gesetzen der Quantenmechanik. Wo gleichzeitig noch hohe Geschwindigkeiten bzw. hohe Teilchenenergien eine Rolle spielen, haben die Quantenfeldtheorien das Sagen, die sich aus der Kombination von Quantenmechanik und Spezieller Relativitätstheorie ergeben.

Noch unbekannt ist, welche Theorie die Natur zutreffend beschreibt, wenn sowohl das winzig Kleine (Quantentheorie!) als auch extrem starke Gravitationsfelder (Allgemeine Relativitätstheorie!) eine Rolle spielen. Solch eine Theorie der Quantengravitation suchen die Physiker seit mehr als 70 Jahren vergebens. Nicht, dass sie dabei nicht interessante Kandidatentheorien gefunden hätten – die Stringtheorie oder die Schleifen-Quantengravitation sind Beispiele dafür. Aber eine vollständige, in sich konsistente Theorie der Quantengravitation steht nach wie vor aus.

Auch wenn ich mich hier auf die Hierarchie der grundlegenden Theorien konzentriert habe: Gültigkeitsbereiche haben natürlich auch alle anderen Theorien. Die Kontinuumsmechanik beispielsweise, in der man Substanzen als im Prinzip unendlich fein teilbar betrachtet, gelangt dann an ihre Grenzen, wenn Charakteristika der molekularen und atomaren Struktur dieser Substanzen wichtig werden.

Theorien, Modelle und Wirklichkeit

[Absatz hinzugefügt am 1.2.2014, 23:40]

Obwohl schwer zu quantifizieren, so sollte doch klar sein, dass einige Modelle die Wirklichkeit besser abbilden als andere. Qualitative Kriterien dafür liegen auf der Hand: Ein Modell, das in gegebener Situation zutreffende Vorhersagen trifft, ist besser als eines, dessen Vorhersagen daneben gehen (bei quantitativen Vorhersagen lässt sich quantifizieren,
wieweit daneben – oder wie gut die Übereinstimmung ist). Ein Modell, das möglichst viele Eigenschaften der modellierten Phänomene abbildet, ist besser als eines, das nur wenige Eigenschaften wiedergibt. Wie in Teil 2 im Abschnitt zum Sparsamkeitsprinzip besprochen: Ein Modell, das viele Entitäten einführt, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben, ist weniger gut als eines, das in dieser Hinsicht sparsam ist.

Diese näherungsweise Abbildungstreue ist keineswegs eine Eigenschaft von Modellen allgemein. Sie kommt für die Modellvorstellungen, auf denen die Theorien der Physik gründen, erst zustande, weil wir von solchen Modellvorstellungen fordern, dass sie die genannten Kriterien so gut wie möglich erfüllen mögen.

Auch wenn wir uns philosophisch jetzt auf schwieriges Gelände begeben: Zumindest so, wie wir das Wort im Alltag gebrauchen, bedeutet die näherungsweise Abbildungstreue, dass wir mithilfe unserer Modelle im begrenzten Maße auch Aussagen über die Wirklichkeit (was immer das letztlich ist) treffen. Dass die Welt, wie sie z.B. physikalische Theorien beschreiben, eine vereinfachte Welt ist und bereits aufgrund der Vereinfachungen – die nicht zuletzt für die im vorigen Abschnitt beschriebenen begrenzten Gültigkeitsbereiche der Theorien verantwortlich sind – nicht identisch sind mit der wirklichen Welt, versteht sich von selbst.

Aber durch die Kopplung an Experimente und durch den Versuch, Theorien möglichst sparsam zu formulieren, sind die Modelle, um die es bei den etablierten physikalischen Theorien geht, alles andere als willkürlich.

Die Frage, inwieweit die Konzepte des Modells Gegenstücke in der Wirklichkeit haben, ist dabei zum Verständnis dieser Theorien durchaus von Interesse.

dalton-atomsEin historisch und auch philosophisch interessantes Beispiel sind Atome – gibt es die wirklich? Als Dalton Anfang des 19. Jahrhunderts über Atome schrieb (das Bild rechts stammt aus seinem 1808 veröffentlichten New System of Chemical Philosophy) konnte man mit einigem Recht bezweifeln, dass Atome als winzige Teilchen tatsächlich existierten – ebenso war möglich, dass sie nur Teile des vereinfachten Modells, einer Art Ordnungsschemas der chemischen Elemente, gewesen wären. Es gab zu jener Zeit keine Experimente, die direkt hätten nachprüfen können, ob Atome mehr waren als eine Hilfsvorstellung.

Mit zunehmendem Fortschreiten der Forschung wurden die Belege dafür, dass die Atome, die Teilkonzepte des Atommodells waren, tatsächlich eine Entsprechung in der Wirklichkeit hatten: Mit der statistischen Mechanik, welche die beobachteten makroskopischen Eigenschaften z.B. von Gasen durch mikroskopische Bewegungen von Atomen erklärte, mit genau den gleichen Konzepten, mit denen die Mechanik die Bewegung makroskopischer Körper beschreibt. Mit Einsteins Doktorarbeit, die zeigte, wie sich diejenigen Vorhersagen der statistischen Mechanik, in denen sie sich von den Kontinuumsmodellen unterscheidet – also nicht die Aussagen zu den makroskopisch wichtigen Mittelwerten, sondern den Fluktuationen, in denen sich die zugrundeliegenden mikroskopischen Gesetze äußern – und der experimentellen Bestätigung durch Perrin. Deutlich später dann durch Möglichkeiten, einzelne Atome zu manipulieren (etwa als Ionen in einer Paul-Falle) oder mit Rastertunnelmikroskopie sogar abzubilden wie in dem folgenden Bild, wo die Kupferatome als kleine Buppel zu sehen sind (Bildquelle: SPM-Gruppe von Prof. Dr. R. Wiesendanger, Universität Hamburg):

fcent06

All das heißt noch nicht, dass zufriedenstellend definiert wäre, was die Wirklichkeit überhaupt ist. Aber es heißt, dass Physiker, wenn sie über Atome so reden, als wären diese real, nichts grundlegend anderes tun als wir alle im Alltag, wenn wir einige Dinge real nennen und anderen die Realität absprechen.

Die nächtliche Aussage eines kleinen Kindes, dort im Flur der heimischen Wohnung säße ein fremder Mann mit Schlapphut und Mantel, bewerten wir als Einbildung und damit nicht real, wenn ein Erwachsener, der sich im Flur gründlich umschaut, keine Spuren des Mannes entdeckt, und als real, wenn dort tatsächlich ein allen Beobachtern sichtbarer, anfassbarer Mann sitzt (nicht, dass wir in der entsprechenden Situation dann noch groß über erkenntnistheoretische Fragestellungen nachdenken würden). Und wenn sich Atome als ihre Erkenntnis behaltenden Objekte isolieren, untersuchen, manipulieren, abbilden und sich die Eigenschaften der Materie aus dem Zusammenspiel atomarer Eigenschaften erklären lassen, dann sind dies Gründe, zumindest mit der gleichen Berechtigung, mit denen wir Alltagsgegenstände real nennen, auch Atome – oder, wenn wir es mit der Unterscheidung von Modellen und Phänomenen genau nehmen: etwas, von dem die Atome unserer Theorien das vereinfachte Abbild sind – real zu nennen.

Nicht immer ist die Entscheidung so gut begründbar wie bei Atomen, die tatsächlich viel gemeinsam mit dem haben, was wir auch im Alltag als Objekt bezeichnen. Was hat es z.B. mit den Feldern auf sich, mit denen die klassische Physik elektromagnetische oder Gravitationswechselwirkungen erklärt? (Ich habe hier versucht, den Feldbegriff allgemeinverständlich zu erklären.) Die sind in einer Betrachtungsweise nur Hilfskonstrukte, die dort auftreten, wo der Wechselwirkung entsprechende Ladungen vorkommen. Andererseits bewegen sich z.B. elektromagnetische Felder in Form elektromagnetischer Wellen durchaus selbstständig durch den Raum. Entsprechen damit auch den Feldern bestimmte Phänomene in der Wirklichkeit? Wie ist es mit den Quarks in Proton und Neutron, die sich prinzipiell nicht als Einzelteilchen isolieren lassen, aber andererseits eine ganze Reihe von Eigenschaften mit dem gemeinsam haben, was wir Teilchen nennen?

Und, noch ferner von unseren Alltagsvorstellungen: Wie ist es mit den mathematischen Funktionen, die in der Quantentheorie die Wahrscheinlichkeitsverteilung dessen beschreiben, was mit Teilchen und Kräften passiert – gibt es die nur in unseren Modellen, oder sind das auch (grundlegende?) Bausteine der Realität?

Da sind wir dann wirklich in Gefilden, wo es sowohl philosophisch als auch physikalisch schwierig wird. Für die meisten Physiker dürfte der Sprachgebrauch, von den Entitäten, die in den physikalischen Theorien vorkommen, wie von realen Dingen zu reden, schlicht eine pragmatische Abkürzung sein – jedesmal “im Rahmen unserer Theorie” oder “als Modellvorstellung” hinzuzufügen, wäre im Alltag enorm umständlich – und außerdem durch den Anspruch gerechtfertigt, dass jede irgend überprüfbare Aussage über diese Entitäten ja durchaus experimentell entscheidbar sein sollte. Dass solch ein Sprachgebrauch aufgrund der Rolle von Modellvorstellungen bei der Theoriebildung eine Verkürzung darstellt, ist keine Frage. Aber ganz falsch ist er – aufgrund der Abbildungsgüte der Theorien, die sich aus Sparsamkeitsprinzip und der konsequenten Prüfung durch Experimente ergibt – eben auch nicht.

Was heißt das für die Praxis?

Wer sich für Wissenschaftstheorie interessiert, der dürfte in so ziemlich jedem Absatz meines Textes diskussions- und hinterfragungswürdige Aussagen ausmachen. Wer sich vor allem auf die Physikpraxis konzentrieren, also selbst Theorien und Modelle konstruieren oder mit ihnen arbeiten oder Experimente anstellen möchte, dem/der mögen solche Überlegungen eher schon zu weit gehen.

Aber sich diese übergreifende Struktur dessen, was Physiker/innen in der Praxis tun, einmal bewusst gemacht zu haben, ist sicher nicht falsch und sollte zur Allgemeinbildung von Physiker/innen gehören. Solche Allgemeinbildung kann helfen, bestimmte Vorurteile gar nicht erst entstehen zu lassen: In der Physikausbildung – in der Schule und in Grundstudiumsvorlesungen, sogar in manchen Anfängerpraktika – werden Experimente oft so präsentiert, dass ihre wichtigste Rolle in den Hintergrund tritt. Dort treten Experimente als Demonstrationsexperimente auf, bei denen stets das Naturgesetz, das geprüft bzw. bestätigt werden soll im Vordergrund steht und alles andere weitgehend unwichtig ist. Die Modellierung des Experiments wird oftmals gar nicht angesprochen. Das Experiment spielt die Rolle einer Illustration, ähnlich wie ein Diagramm oder eine Grafik, die bekräftigt und verdeutlicht, was dem Schüler oder dem Studenten vermitteln werden soll.

Als Gegengewicht ist es dann nicht schlecht, sich immer einmal wieder bewusst zu machen, welche Rolle Experimente bei der Überprüfung von Theorien spielen – und welche Rolle die Modelle, nicht nur der betrachteten Situation, sondern auch die Modelle der verwendeten Messinstrumente. Das Bewusstsein, dass man tunlichst auch Modelle für seine Daten formulieren sollte, führt uns dann mitten in die aktuelle Forschung, denn dazu und zu den angewandten statistischen Verfahren gibt es auch heute noch rege Diskussionen, die durchaus auch Einfluss darauf haben, wie Wissenschaft betrieben wird. Auf einige dieser Fragen möchte ich in späteren Blogbeiträgen noch eingehen. Und um dann einordnen zu können, worum (und insbesondere um welchen Teil der wissenschaftlichen Arbeit!) es dabei geht, sollte man schon eine Vorstellung von den Begriffen haben, die ich in meinem Dreiteiler Theorien, Modelle, Experimente vorgestellt habe.

[Originalversion veröffentlicht am 25.1.2014, 20:00; Absatz über Theorien und Wirklichkeit hinzugefügt am 1.2.2014, 22:40]

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

31 Kommentare

  1. Neue Erkenntnisse werden wohl weiterhin meist mit (teuren) Experimenten unter hochkontrollierten Bedingungen gewonnen. Für die Schulphysik aber genügt heute oft schon eine Hochgeschwindigkeitskamera und entsprechende Auswertungssoftware. Fallversuche beispielsweise können dann an einem Wurf mit einem beliebigen Körper gemacht werden ohne dass man irgend etwas präparieren muss. Noch besser gelingt das mit zwei Objektiven, denn dann erhält man direkt 3D-Daten.
    Sehr präzise Vermessungen allein auf beobachtender Basis können aber sogar fundamentale physikalische Fragen beantworten. So wird Gaia bis zu einem gewissen Grad die Struktur der Raumzeit vermessen und Veränderungen der Gravitationskonstante bis zu einer Genauikgeit von
    10^−13/Jahr feststellen können.
    Beobachten war zwar immer schon ein zentraler Teil von Experimenten, aber erst seit ein paar Jahren kann man auch komplizierte Objekte beobachten und dabei quantitativ sehr detaillierte Daten sammeln.

    • Bei der Schulphysik habe ich, wie gesagt, den Eindruck, dort seien so gut wie alle Experimente reine Schauexperimente. Auch Software zur Auswertung von Kamerabildern ist da zunächst einmal eine Black Box. Ich wünsche mir in der Schule zumindest mal punktuell Versuche, wo richtig den Fehlern hinterhergespürt wird.

      Dass man erst “seit ein paar Jahren” “komplizierte Objekte beobachten und dabei quantitativ sehr detaillierte Daten sammeln” können, kann ich nicht nachvollziehen. Sicher haben die Datenströme zugenommen, aber aerodynamische Versuche, Himmelsmechanik etc. gibt es ja nun nicht erst seit ein paar Jahren.

  2. Zitat (Markus Pössel): “… Die klassische Mechanik beispielsweise liefert exzellente Beschreibungen – Modelle, die alle Prüfungen hervorragend bestehen – solange die Geschwindigkeiten, die dabei vorkommen, deutlich kleiner sind als die Lichtgeschwindigkeit. Nahe der Lichtgeschwindigkeit werden Effekte wichtig, anhand derer sich die Spezielle Relativitätstheorie von der klassischen Mechanik unterscheidet…”

    Diese Behauptung ist unbewiesen.

    Begründung: Klassische Mechanik ist nur auf die Objekte anwendbar die elektrisch neutral sind. Sonst muss elektromagnetische Energie berücksichtigt werden und man erhält nach Lorentz genau die Formeln welche die SRT für sich beansprucht.

    • Unbewiesen im Rahmen eines solchen rein beschreibenden Blogeintrags sowieso!

      Aber zunächst mal zu Elektrizität und Magnetismus: Damit haben die Physiker doch nun schon deutlich vor Lorentz bzw. SRT durchaus erfolgreich gerechnet – eben mit klassischer Mechanik, um zu beschreiben, wie die beteiligten Teilchen durch elektrische bzw. magnetische Kräfte beeinflusst werden.

  3. Markus Pössel schrieb (25. Januar 2014):
    > Die klassische Mechanik beispielsweise liefert exzellente Beschreibungen – Modelle, die alle Prüfungen hervorragend bestehen

    Derlei Modelle, die Begriffe der Geometrie ohne zugrundeliegende Messdefinitionen verwenden, lassen sich nach Eddington kurz und bündig zusammenfassen:

    Jeder Körper verhielt sich, als sei er “frei” gewesen;
    es sei denn, er war nicht “frei”. Bzw.:
    Jedes System entwickelte sich, als sei es “abgeschlossen” gewesen;
    es sei denn, es war nicht “abgeschlossen”.

    • K. Popper hat also sehr wohl Recht damit gehabt, Falsifizierbarkeit einzufordern.

      Nur blöder Weise hat er Falsifizierbarkeit von Theorien (Axiomen, Begriffen, Theoremen) gefordert,
      anstatt von Modellen bzw. Hypothesen (die unter Verwendung von bestimmten Begriffen formuliert werden).

      • So blöd muss es nicht gewesen sein, die (naturwissenschaftliche) Theorie selbst der Welt auszusetzen und deren mögliche Falsifizierbarkeit zu fordern, wenn diese Theorien nicht mathematisch-logischer (“sprachlicher”) Art sind.
        Ist eine Theorie gefällt (“empirisch inadäquat”), könnten Teile dieser Theorie fortbestehen und anders verwendet werden.
        Kommt auf Ähnliches heraus, wie von Ihnen nahegelegt, btw: Theorien haben genau dann ihre Daseinsberechtigung, wenn sie in zumindest einem Gebrauchsfall beschreiben, erklären oder die Voraussage erlauben.
        D.h. -noch einmal erklärt- auch falsifizierte Theorien könnten weiterhin utilitaristisch genutzt werden.
        Ischt schwierig…

        MFG
        Dr. W

  4. Hallo Herr Pössel,

    ein paar kritische Bemerkungen:

    Im ersten Beitrag schreiben Sie: Ein Modell ist eine Darstellung oder Abbildung von Phänomenen.

    Diese Sichtweise ist irgendwie schief und krumm:

    Modelle gibt es, weil die reale Welt der Physik zu kompliziert ist. Modelle sind gedachte Welten, in denen die Vielfalt und Komplexität der realen Welt (oder eines Ausschnitts davon) modellhaft auf eine vereinfachte, schematische, idealisierte Wirklichkeit reduziert ist. In diesen gedachten Modellwelten gibt es keine Sonne aus Gas und Planeten aus Fels, sondern Planetensysteme aus Punktmassen, Strömungen ohne Wirbel, ideal stossende Atome, schwarze Flächen, die jede auftreffende Strahlung verschlucken, Teilchen ohne Ausdehnung, Quanten ohne Bestimmung, und von ihrer Umgebung gänzlich unabhängige Systeme – alles Idealisierungen, die zum Zwecke der Vereinfachung geschaffen wurden, oder um das Wesentliche einer Situation darzustellen, bei der viele Effekte, die ein Messergebnis nur wenig beeinflussen, weggedacht sind.

    Alle mathematischen Formeln der Physik, sofern sie einfach gehalten sind, gelten in diesen Welten. Sie zeigen in der Regel die einfachen (linearen) Abhängigkeiten von Bestimmungsgrössen der Modellobjekte untereinander auf.

    Die Naturgesetze gelten, wohlbemerkt, in der Welt der Modelle, sie gelten für die dort vorhandenen Gedankenobjekte. Sie gelten nicht für die Objekte der Wirklichkeit, man kann aus Experimenten nur schliessen, dass sie dort näherungsweise gelten, denn:

    Aus der Übereinstimmung der Ergebnisse von gedachten Modellexperimenten und Experimenten in der Wirklichkeit kann man schliessen, dass die Wirklichkeit näherungsweise dem Modell entspricht, nicht umgekehrt, dass die Wirklichkeit ein Modell festlegt. Erst das Modell, dann die Beschreibung der Wirklichkeit – und nicht erst das Phänomen und dann das Modell.

    Aus welchem Phänomen ist denn das Atommodell entwachsen ? Aus einem Phänomen ? Nein, aus der Übereinstimmung von Modellexperiment und Realexperiment – also hier war erst das Modell da, danach die näherungsweise richtige Beschreibung eines „Phänomens“.

    Physik befasst sich mit Modellen und der Wirklichkeit nur am Rande. Physiker tun sich schwer, dies zuzugestehen, da dies eine Einbusse an Deutungshoheit bedeutet.

    Grüsse Fossilium

    • Die Definition ist ja nun nicht auf meinem Mist gemachen, sondern kommt von den Wissenschaftstheoretikern – siehe der Verweis auf die Stanford Encyclopaedia of Philosophy im ersten Teil.

      Ihre Argumentation, dass erst das Modell käme, dann die Beschreibung, finde ich allerdings nicht überzeugend. Am Anfang steht ja historisch eigentlich doch immer ein Phänomen, das es zu erklären gilt. Da hat sich doch eigentlich niemand erst ein mathematisches Modell ausgedacht und dann mühsam herumgesucht, ob es sich irgendwie mit Messvorschriften verknüpfen lässt. (Das wäre, wenn man die Vielfalt der mathematischen Modelle betrachtet, ja auch recht unwahrscheinlich.)

      Die Frage, was das z.B. für Atommodelle etc. bedeutet, ist allerdings interessant – da sollte ich wahrscheinlich noch etwas ergänzen.

  5. Vereehrter Herr Pössel,
    Ihren Einwand habe ich erwartet und natürlich sind Beobachtungen Grundlagen für jede Beschreibung der Natur. Es kommt mir in meiner Argumentation auf folgende Dinge an:
    a) jede systematische Beschreibung der Natur benötigt zunächst ein Modell, daraus kann auf die Struktur der wirklichen Welt (wie immer man diese vorher definiert hat) zurückschliessen. Die Strukturen der geistunabhängigen Welt sind ohne vorgängiges Modell nicht erkennbar.
    b) Modelle sind sozusagen die Spielwiese der Physiker. Man kann sich beliebige Objekte darin hineindenken, auch solche, die jeder Logik widersprechen. Solange das Modell funktioniert (solange Modellexperimente den gleichen Ausgang haben wie gleichartige Realexperimente) ist alles erlaubt, das ist auch gut so und liegt in der Natur der Sache.
    c) Das Problem beginnt, wenn das Modell mit der realen Welt verwechselt wird. Wenn ein Physiker behauptet, Lichtquanten und Felder – also Modellobjekte – seien physikalische Entitäten der Realwelt dann treibt er Metaphysik und keine Physik. Leider ist dies unter Physikern gang und gebe. Im Mittelalter wurde das Unerklärliche Geistern, Tod und Teufel zugeschrieben – kraft Autorität der Kirche – heute sind es geisterhaften Teilchen und Quanten aus der Modellküche der Physik – kraft der Autorität der Wissenschaft. Wer ein funktionierendes Modell hat, erliegt schnell der Versuchung, die Wirklichkeit nach seinem Modell zurechtzubiegen.
    Natürlich ist das alles etwas überspitzt formuliert. Natürlich wird die Wirklichkeit funktionierenden Modellen ähnlich sein. Wer aber eine mathematische Figur zur Realität erklärt (Wikipedia), der muss schon etwas neben der Spur liegen oder seine Gesprächspartner oder Leser für etwas dümmlich halten.
    Nichts für ungut
    Fossilium

    • Dass man mit Modellen und Realität vorsichtig sein muss: keine Frage.

      Aber ganz so einfach wie “alles nur Modellobjekte” ist es dann auch nicht. Das ist ein Punkt, der in der jetzigen Fassung meines Textes in der Tat noch nicht gut genug herausgearbeitet ist, da will ich noch nachbessern.

    • Gleich schalte ich die Ergänzung zum Thema “Theorie und Wirklichkeit” frei; hier noch direkt zu einigen der Punkte, die Sie ansprechen:

      b) die grundlegenden physikalischen Theorien sind deutlich mehr als eine Spielwiese: der Logik widersprechen im Sinne des inkonsistent-sein dürfen sie nicht, und alles erlaubt ist, siehe Sparsamkeitsprinzip, auch nicht. Da gibt es durchaus zusätzliche (nicht immer scharfe) Kriterien, die für größere Abbildungstreue sorgen als bei Modellen allgemein.

      c) Das ist zu stark vereinfacht, und die Gleichsetzung mit Geistern und Teufel vernachlässigt einige der wichtigsten Eigenschaften der physikalischen Modelle überhaupt. Modelle sollen nicht nur eine schöne Geschichte dazu bieten, was da experimentell nachvollziehbar geschieht, sondern man fühlt auch ihren Komponenten auf den Zahn. Beispiel Atome: Nicht nur Ordnungsschema, sondern wenn Atome wirklich Objekte sind, muss man nach all dem suchen, was Objekte so an sich haben: Vereinzelbarkeit, grundlegende mechanische Eigenschaften etc. etc. – und so haben die Physiker das ja auch gemacht.

      Das bedeutet nicht, “mathematische Figuren” naiv “zur Realität erklär[en]”, aber bei hinreichend viel Evidenz zu schließen, dass es auch zu den mathematischen Teilfiguren unserer Theorien in der Realität entsprechende Teilaspekte gibt.

  6. Hallo Herr Pössel,

    physikalische Theorien müssen nicht konsistent sein: es ist unlogisch zu behaupten, ein Quantensystem könne in einem Zustand existieren, der einer gewichteten Summe aus den Drehimpulsen 1/1 und -1/2 entspricht, wenn nur entweder ein Drehimpuls von 1/2 oder -1/2 beobachtet werden kann. Denn ein solcher Zustand wäre als Modellobjekt ausserhalb der Messung unbestimmt, nach der Messung bestimmt, aber er wäre mathematisch vor u n d nach der Messung bestimmt. Das ist unlogisch und inkonsistent, denn was mathematisch bestimmbar ist, kann modellhaft nicht unbestimmbar sein, weil Modellobjekte grundsätzlich mathematisch bestimmt werden. Dass Zustände von Quantensystemen sich nicht logisch erklären lassen, ist ja in der gängigen Physik unbestritten – macht ja auch nichts, sind ja nur Modelle.

    Aber bei den mathematischen Figuren, da winden Sie sich– zu Recht ! Ich habe in der Formulierung etwas übertrieben, aber inhaltlich bestreiten Sie ja nicht, dass ein Feld keine physikalisches Objekt sein kann. Der Raum nach Einstein angeblich schon, obwohl da gar nichts ist, als Ersatz für das Gravitationsfeld. Aber das elektromagnetische Feld ? Was soll es denn heissen, dass es in der Realität „Teilaspekte“ gibt ? Immerhin scheuen Sie die Diskussion über diese Frage nicht – bin ich anderes gewohnt.

    Es geht ja hier um Grundbegriffe der Physik, und um die Frage, was zählen wir zur Realität, und dabei wird in der Physik bei der Beschreibung und Erklärung von Aspekten der Welt einfach sehr viel an den Anfang axiomatisch gesetzt, ohne dass dies explizit gesagt wird. Das ist aber ein Fehler – schlampige Wissenschaftlichkeit. Ich versuche die Dinge auf den Punkt zu bringen und sage: ein Feld ist kein konstituierendes Bestandteil der geistunabhängigen äusseren Welt, wie sie von der Physik beschrieben wird. Was es tatsächlich ist, darüber kann man reden, aber das, was in der gängigen Physik darunter verstanden wird, nämlich ein Objekt der physikalischen Realität, ist es nicht. Wer das dennoch behauptet, kommt bei der Begründung immer an einen Punkt, an dem die Logik zwangsläufig aussetzt. Also kann ein Feld nur Bestandteil eines Modells sein. Das reicht doch auch. Um Apparate zu bauen, brauchen wir das Feld in der Realität nicht.

    Was Sie sich mit Ihren drei Beiträgen vorgenommen haben, ist erkenntnistheoretisch selbst ein so grosses Feld, dass dies kaum in einem grossen Bogen näherungsweise erfasst werden kann. Schon ein kleiner Teilaspekt, nämlich das Verhältnis von Modell und Wirklichkeit, kann vielfältig betrachtet werden.

    Aber immerhin kann man es bei solchen Teilaspekten ein bisschen kontrovers treiben.

    Grüsse Fossilium

    • Überlagerte Zustände sind überhaupt nicht unlogisch. Sie sind nur etwas anderes, als wir aus unseren Alltagserfahrungen kennen. Und das prinzipiell Unbestimmbare bekommen Sie ja bereits über die semiklassischen Begründungen für die Unschärferelation ins Spiel – dass es Zustände gibt, die Sie nicht in Erfahrung bringen können, ohne sie zu stören.

      Zu den Feldern: Mit “Teilaspekt” ist folgendes gemeint. Wenn ich z.B. elektromagnetische Felder nur als Mittler zwischen Ladungen sehen würde, dann könnte man mit einigem Recht sagen: Ladungen sind das einzig Reale, und diese Ladungen wirken aufeinander. Aber Felder können eben auch als elektromagnetische Wellen auftreten, sind dann in vielerlei Hinsicht selbst Entitäten, die durch den Raum reisen (Wellenpakete/Lichtimpulse, in der Quantentheorie dann Photonen), die man isolieren und manipulieren kann, denen man selbst auch Energie und Impuls zuordnen kann. Das ist etwas anderes als z.B. der Newetonsche Gravitations-Kraftbegriff, der nur als Hilfskonstruktion auftritt und bei dem es gar keinen Sinn ergeben würde, ohne Anwesenheit von Massen von solch einer Kraft zu reden.

      Insofern würde ich überhaupt nicht ausschließen, dass es auch bei den grundlegenden Bestandteil der Natur etwas gibt, von dem die Felder die vereinfachte Modell-Entsprechung sind. Und dass da “die Logik zwangsläufig aussetzt” sehe ich nicht – ich habe eher den Verdacht, Sie würden sich da in die lange Reihe jener Mitmenschen einreihen, die, wenn etwas allzu ungewohnt ist oder nicht mehr in das aus Alltagserfahrungen destillierte Erkenntisschema passt, gleich “unlogisch!” rufen, wo “ungewohnt” oder “mit Alltagsbegriffen schwer zu begreifen” eigentlich die richtige Bezeichnung wäre.

      • Markus Pössel schrieb (2. Februar 2014 0:55):
        > Überlagerte Zustände sind überhaupt nicht unlogisch. Sie sind nur etwas anderes, als wir aus unseren Alltagserfahrungen kennen

        Überlagerte Zustände sind aus unseren Alltagserfahrungen überhaupt nicht unbekannt.

        Man nennt den Zustand
        (1) “Wir wissen nicht, ob die Katze lebendig oder tot ist.”
        nur oft etwas anders (nämlich: “Die Katze ist uns gegenüber abgeschlossen”);

        oder den Zustand
        (2) “Wir wissen nicht, ob die Katze gerade diesseits der Katzenklappe futtert, oder jenseits der Katzenklappe herumtollt.”
        nur oft etwas anders (nämlich: “Der Katze geht’s gut.”);

        oder den Zustand
        (3) “Die Katze fällt nur durch heftiges Schütteln aus der Kiste; und nur durch gezieltes Werfen wieder hinein.”
        nur oft etwas anders (nämlich: “Die Katze ist tot.”);

        oder den Zustand
        (4) “Hatschie! (Katzenallergie!); aber orthogonal zu Zustand (1).”
        nur oft etwas anders …

  7. Hallo Herr Pössel,

    Sie schreiben:
    “Felder … sind dann in vielerlei Hinsicht selbst Entitäten, die durch den Raum reisen (Wellenpakete/Lichtimpulse, in der Quantentheorie dann Photonen), die man isolieren und manipulieren kann, denen man selbst auch Energie und Impuls zuordnen kann.”

    Was Sie da beschreiben, ist ein Modell, mit dem Sie die Wirkung von Strahlung auf Materie
    erklären können. Das mag so gut funktionieren !

    Aber wenn Sie nun hingehen und behaupten, diese modellhaften Entitäten wären gleichartig in der Realtät vorhanden, dann kommen Sie wie ein Geisterbeschwörer daher, der uns weismachen will, ein nicht-materielles Wesen genannt Feld, Quant, Ghost, o.ä. reise durch den leeren Raum und trage in einem Behälter Energie und Impuls auf seinem nicht-materiellen Rücken, welche es auf die Atome ausschütte, sobald es mit diesen in Kontakt gerate, um sich dabei gleichzeitig ins Nichts aufzulösen. Das ist schon keine Physik mehr, nicht einmal mehr Metaphysik, sondern mystische Erzählkunst.

    Ehrlicherweise müssten Sie sagen: was in der Realität (sofern man diesen Begriff zuvor erklärt hat) passiert, kann man nicht sagen, es bleibt unbestimmt, hilfsweise vielleicht: es gibt ein Realphänomen, das raumgreifend ist, lokal wirken kann (Energie und Impuls auf eine Atomhülle übertragen kann), das wir in seinem Wesen nicht verstehen, aber wir haben ein gutes Modell. Wir können das unverstandene Phänomen in einem Apparat erzeugen und vielfältig manipulieren. Oder Sie sagen: die Realität, was herkömmlich darunter verstanden wird, muss erweitert werden, um die Existenz von Virtuellem oder Potentiellem, und dann muss zunächst eine neue Definition der Realität her, in der man die Objekte der Modelle logisch und konsistent unterbringen kann. Das wäre aber eine Methodenerweiterung der Physik – aber die Physiker kleben am Bewährten. Wer im etablierten Wissenschaftsbetrieb hätte den Mumm, sich einer solchen gefährlichen Aufgabe zu stellen ?

    Kurzum: was ein Feld wesenhaft ist, wissen wir nicht, solange wir den üblichen Realitätsbegriff der Physik anwenden.

    Dieses Eingeständnis der Unwissenheit fällt ja so schwer, kommt es doch einem schrecklichen Authoritätsverlust gleich.

    Aber die schöne Bildersprache der Physik hat auch etwas.

    Grüsse
    Fossilium

    • Ich habe den Eindruck, dass Sie hier nach wie vor von “mit Alltagsbegriffen schwer auszudrücken” vorschnell zu “kann nicht wirklich sein” springen.

      Im Gegensatz zum Geisterbeschwörer bin ich bei der Entität (elektromagnetische) Strahlung ganz konsequent: Im Modell breitet sie sich mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum aus; ob ich diese Eigenschaft in der Realität wiederfinde, kann ich nachprüfen, indem ich schaue, wenn mein Detektor einen vorher losgeschickten Strahlungspuls antrifft und wo (noch) nicht bzw. wo (nicht) mehr. Das legt nahe, dass da tatsächlich etwas ist (und zwar etwas, das Energie besitzt), das sich durch den Raum ausbreitet.

      Wenn der Geisterbeschwörer so etwas in reproduzierbarer Art und Weise mit seinen Geistern machen könnte (direkt mit Messapparaturen nachweisen; Ausbreitung nach einfachen Gesetzmäßigkeiten) könnte man über seine Geister wissenschaftlich reden. So aber bleibt Ihre Gleichsetzung reine Polemik.

      Was Sie da von “Mumm” und “gefährlich” und “Autoritätsverlust” reden, halte ich für maßlos überzogen. Bei den meisten Physikern ist es doch so, wie ich schreibe: Die Sprechweise ist nur Kurzform bzw. Ausdruck des Umstandes, dass Konsequenzen aus den Modellvorstellungen experimenteller Überprüfung zugänglich sein sollten. Der philosophische Unterbau dürfte die meisten Physiker wenig interessieren – die würden erst aufhorchen, wenn sich aus der “neue[n] Definition der Realität” Aussagen ergäben, die man (zumindest prinzipiell) experimentell überprüfen kann, oder die bei der Formulierung physikalischer Theorien helfen.

      • Markus Pössel schrieb (2. Februar 2014 14:24):
        > […] (elektromagnetische) Strahlung […]: Im Modell breitet sie sich mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum aus; ob ich diese Eigenschaft in der Realität wiederfinde, kann ich nachprüfen, indem ich schaue, wenn mein Detektor einen vorher losgeschickten Strahlungspuls antrifft und wo (noch) nicht bzw. wo (nicht) mehr.

        wo” ?,
        und wo (noch) nicht “) ?? —

        Falls dieses (mehrfach auftretende) Wort “wo” eine Andeutung von (messbaren, gemessenen und sogar nachprüfbaren) geometrischen Beziehungen zwischen einer (bzw. “der”) Quelle des “Strahlungspulses” und “meinem Detektor” und sogar anderen Detektoren (anders-“wo”), und/oder “meinem Detektor” in verschiedenen Versuchen, sein sollte,

        und nicht nur das beliebige Auswählen von (kartesischen) Koordinaten-Tupel-Werten,

        dann handelt es sich hierbei offenbar um einen erheblichen Vorgriff (im Rahmen der Serie “Einstein verstehen: Ein Blogexperiment”) auf ein wichtiges Thema, das in diesem Blog hoffentlich endlich noch mal sorgfältig behandelt wird.

        • Das ist schon fast Nörgeln auf Troll-Niveau. Es ist ja nicht so, dass in dem verlinkten “Einstein verstehen”-Artikel nicht auch behandelt würde, wie man Längen praktisch misst, und Analoga zu Geraden etc. in der Wirklichkeit konstruiert.

          • Markus Pössel schrieb (12. Februar 2014 12:53):
            > Es ist ja nicht so, dass in dem verlinkten “Einstein verstehen”-Artikel nicht auch behandelt würde, wie man Längen praktisch misst […]

            Es ist ja nicht so, dass die dort angegebene Formuliering “Vielfaches der Wellenlänge von Licht eines bestimmten atomaren Übergangs” irgendwie dabei helfen könnte zu verstehen, was eventuell mit “Länge” gemeint sei (oder in Ermangelung dessen, zunächst wenigstens wie “atomare Übergange” ohnedies auf “einen bestimmten einzugrenzen sein sollten).

            Es ist ja nicht so, dass die CGPB seit 1960 nichts dazugelernt hätte;
            bzw. dass Physiker nicht schon seit (spätestens) dem frühen 20. Jh. gelernt hätten, praktische “Längen“-Messungen, und insbesondere die Beurteilung von systematischen Unsicherheiten, nicht auf irgendwelche Artefakte zu gründen.

            Und es ist ja nicht so, dass im genannten verlinkten Artikel (auf Nachfrage) nicht auf eventuelle
            entsprechenden Betrachtungen in nachfolgenden Artikeln der Serie verwiesen worden wäre — die ich bisher vermisse, und deren bisher offenbar gänzliches Fehlen sich nur allzu oft so äußert, wie in der obigen (2. Februar 2014 14:24) bedauerlichen Bemerkung betreffs des angeblichen

            Nachprüfens [ob] sich (elektromagnetische) Strahlung mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet“.

            > Das ist schon fast Nörgeln auf Troll-Niveau

            Dass diejenigen, die wissen, wie sie uns die Stimmung vermiesen, sich doch oft selbst so leicht den Stimmung vermiesen lassen …

          • p.s.
            Frank Wappler schrieb (12. Februar 2014 16:05):
            > Es ist ja nicht so, dass die CGPB seit 1960 nichts dazugelernt hätte;

            Gemeint war stattdessen die CGPM.

            Aber: Die SciLogs-Kommentarvorschau ist so kaputt schon immer.

  8. Hallo Herr Pössel,

    Sie schreiben:
    “Das legt nahe, dass da tatsächlich etwas ist (und zwar etwas, das Energie besitzt), das sich durch den Raum ausbreitet.”

    Sie haben ja völlig recht, genau das kann man sagen – es gibt ein Realphänomen, das sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet (raumgreifend ist) und das eine Wirkung auf Atome haben kann, indem es dem Atom Energie und Impuls überträgt. Man kann dem Phänomen sogar formal reale Energie und Impulswerte zuordnen – aber damit ist nicht gesagt, um was es sich physikalisch handelt.
    Es geht um die Frage: wie weit bildet ein Modell die Realwelt ab ? Das kann eine durchaus gute Abbildung sein, wenn z.B. das Modell die sinnlich wahrgenommene Wirklichkeit nur vereinfacht oder idealisiert. Aber wenn das Modell Objekte enthält, die, in die Realwelt placiert, eine Realität schaffen, die nicht mehr logisch verstanden werden kann, weil sie z.B. mit Einsteinschen Spukwesen und geisterhaften Teilchen bevölkert wird, dann ist diese Placierung unzulässig – es sei denn man erweitert den Realitätsbegriff, und schliesst Anderes mit ein.

    Die Physik müsste genau das letztere tun, um aus dem Interpretationsdilemma der Quantentheorien herauszukommen, aber dazu müsste sie die Realität metaphysisch neu gründen, und das kann sie nicht, weil sie sich a) methodisch nicht mit Metaphysik befassen darf, und b) die Philosophie als Hilfesteller für Messergebnisinterpretationen geringschätzt – ein Fehler !

    Interdisziplinarität ist nicht ihre Stärke, weil sie auf dem hohen Ross sitzt, allein die materielle Realität erklären zu können (was sie aber nicht kann, wie wir hier sehen).

    Ich denke, sie muss sich daher diese Kritik gefallen lassen.

    Grüsse Fossilium

  9. @fossilium

    »Es geht um die Frage: wie weit bildet ein Modell die Realwelt ab ?«

    Im Prinzip ja, doch bei der Abbildung handelt es sich vielmehr um eine Nachbildung und bei der Realwelt um (im weitesten Sinne) messbare Phänomene.

    Es ist nicht und war nie die Aufgabe der Physik, eine Begriffsbestimmung von Realität zu liefern. Die Physik hat sich indes um die Frage zu kümmern: “Wie sollen wir messen?” Darüber muss eine Vereinbarung getroffen werden, und einzig auf dieser Grundlage lässt sich dann beurteilen, wie gut oder schlecht ein Modell das beschreibt, was an einem in Betracht stehenden Phänomen gemessen wird.

    Soweit Markus Pössel in seinem Text von “Realität” spricht, verstehe ich dies als “das, was messbar ist”. Die Frage wäre gegebenenfalls, ob er seinen Sprachgebrauch in diesem Punkt unmissverständlicher klarstellen sollte?

    Im übrigen gehen Sie anscheinend doch auch davon aus, dass Ihr eigener Sprachgebrauch einem allgemeinen Konsens folgt, wenn Sie einen “üblichen Realitätsbegriff” erwähnen. Was als üblich gilt, kann jedoch stark davon abhängen, in welcher Gesellschaft man sich (üblicherweise) bewegt, sodass es hier vielleicht auch einer Klärung bedarf.

    • Chrys schrieb (3. Februar 2014 13:40):
      > Die Physik hat sich indes um die Frage zu kümmern: “Wie sollen wir messen?”
      > Darüber muss eine Vereinbarung getroffen werden,

      Ganz recht; und von derartigen Vereinbarungen lässt sich experimentelle Falsifizierbarkeit eben nicht fordern.

      > und einzig auf dieser Grundlage lässt sich dann beurteilen, wie gut oder schlecht ein Modell das beschreibt, was an einem in Betracht stehenden Phänomen gemessen wird.

      Was wiederum kein Anliegen der Physik an sich ist, sondern der jeweiligen “-ologie” (z.B. Kosmologie, … Geologie, Klimatologie, … “Elementary-Particology”), in denen geeignete Mess-Vereinbarungen auf die jeweilig betrachteten Phänomene angewandt werden.

      > Es ist nicht und war nie die Aufgabe der Physik, eine Begriffsbestimmung von Realität zu liefern.

      Was allerdings nicht ausschließt, dass Physik trotzdem genau das leistet.

  10. Hi Crys,

    “Es ist nicht und war nie die Aufgabe der Physik, eine Begriffsbestimmung von Realität zu liefern.”

    Das tut sie auch nicht, sie setzt eine bestimmte Realität voraus, aber welche das ist, muss sie schon angeben. Das wird in der Regel auch gemacht.

    Üblicherweise ist dies die Realität, die ausserhalb des beobachteten Subjekts stattfindet, die aus einem von allen Beobachter gemeinsamen genutzten Bezugssystem (z.B. ein Intertialsystem )
    betrachtet wird, die geistunabhängig ist, und es soll eine Realität sein, deren Strukturen in immer besserer Näherung erkennbar sind.

    Realität kann sicher nicht das sein, was messbar ist (also eine Wirkung hat), denn die Messung von Wirkungen führt nicht unbedingt zu einer Erkenntnis über das Objekt – es kann gerade nach vielen Messungen im völlig Unbestimmten verschwimmen.

    Denn wenn ich deren Wirkung messe, egal wie, messe ich an einem Ort eine Energie und Impulsänderung des Messgerätes, und muss aus Erhaltungssätzen und anderen Überlegungen auf Ort, Energie und Impuls des wirkenden Objektes zurückschliessen. Submikroskopische Objekte bleiben bei diesem Rückschluss aber unbestimmt, sie erhalten ihre physikalischen Bestimmungsgrössen im Nachherein zugeordent, und zwar nur formal und nie ohne einen Rest an Willkür. Sie haben ihre physikalische Bestimmung nicht aus einer “direkten”, sie nicht störenden Messung heraus, und vor allem haben sie keine Gestalt, und sind damit unbeschreibbar, mithin als solche zur Beschreibung der Realität – und diese will die Physik ja leisten – ungeeigent.

    Also egal, wie ich sie vermesse, ich kann ihnen weder Gestalt, noch vollständige physikalische Bestimmung geben, schon wegen ihrer mangelnden Gestalt stellen sie keine beschreibungsfähigen Strukturen innerhalb der Realität dar – kurzum ich kann sie zu einer Beschreibung der Realität nicht gebrauchen.

    Wenn ich sie dennoch als real ansehen, schliesse ich etwas in die Realität ein, das grundsätzlich nicht erkennbar ist (ihre Gestalt), und damit habe ich das Problem, dass ich gegen die obigen stillschweigenden Voraussetzungen verstosse – ich habe kein physikalisches Problem, aber eines das an den methodischen Grundlagen meiner Wissenschaft rüttelt.

    Hier sollte dann metaphysische Hilfe in Anspruch genommen werden.

    Grüsse Fossilium

  11. Hi Crys,
    nochmal zu folgendem Punkt:

    “Im Prinzip ja, doch bei der Abbildung handelt es sich vielmehr um eine Nachbildung und bei der Realwelt um (im weitesten Sinne) messbare Phänomene.”

    Das würde ich so nicht sagen. Ein Modell ist keine Nachbildung.

    Es gibt Phänomene in der Realwelt, die keine Struktur haben. Dann bilde ich ein theoretisches (ausgedachtes) Modell mit Struktur und sehe nach, ob es passt (Übereinstimmung von Messung in der Realwelt und Vorhersage des Modells).

    Bei der Zunahme meiner Erkenntnisse über die Realwelt ist und bleibt die Realwelt immer gröber strukturiert als das Modell. Daher kann das Modell keine Nachbildung sein, sondern es ist das Modell, dass die Strukturen vorgibt, die zum Erkenntnisgewinn beitragen, daher ist es das Vorbild
    und nicht Nachbild.

    In der Realwelt gibt es auch nicht nur messbare Phänomene. Denn wenn eine Messung das Phänomen so stört, dass es sich bei der Messung unmessbar verändert, ist das Phänomen nicht mehr als messbar anzusehen.
    Jedenfalls so absolut würde ich das mit der Messung so nicht sagen.

    Nochmals Grüsse
    Fossilium

  12. @fossilium

    »Üblicherweise ist dies die Realität, die ausserhalb des beobachteten Subjekts stattfindet, …«

    Der klassische Naturforscher mag sich traditionell in der Situation des unbeteiligten Betrachters eines objektiven Geschehens wähnen, das er dann “real” nennt. So einfach ist es erkenntnistheoretisch allerdings nicht. Denn was unser Naturforscher da betrachtet und studiert, ist schliesslich ein Bild, das er, vermittels seines Hirns, aus Sinnesreizen selbst komponiert hat. Und die Identifizierung dieses Bildes mit einer externen Umgebung, von der die Sinnesreize zu künden scheinen, ist keinesfalls trivial. Ein Phänomen manifestiert sich erst im Akt der Wahrnehmung und lässt sich nicht davon trennen, weshalb letztlich empirische Erkenntnis der Natur nur intersubjektiv, aber nicht in striktem Sinne objektiv sein kann.

    »Hier sollte dann metaphysische Hilfe in Anspruch genommen werden.«

    Na ja, der Naturforscher muss sich erst einmal darüber klar werden, wo da eigentlich ein Problem mit der Realität sein soll. Eine Unterscheidung wird er gewiss treffen müssen zwischen dem, was die Theorie sagt, und dem, was die Experimente liefern. Für den rein wissenschaftl. Diskurs wird er letzteres vielleicht kurzerhand als “real” bezeichnen, einfach um es sprachlich abzugrenzen, und das ist einstweilen so in Ordnung. Zusätzlich um Messen und Modellieren kommt irgendwann aber noch die Erfordernis einer weitergehenden Interpretation dessen, was da eigentlich erforscht wird, und hier treten dann erkenntnistheor. Fragen hinzu. Dabei fällt hoffentlich auf, dass die “Realität” womöglich gar nicht so ist, wie man ganz naiv meinen könnte. Wo ich es gerade noch zur Hand habe, hier nochmals aus der Allgemeinen Erkenntnislehre von Moritz Schlick:

    Für das naive Individuum bilden den Inbegriff des Wirklichen ohne Frage die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung. […] Der Mensch sagt nicht: ”Ich habe die Wahrnehmung eines Tisches“ und schließt dann erst auf das Vorhandensein des Tisches, sondern er sagt: ”Ich sehe den Tisch“; ohne daß er irgendeinen Schluß zöge, ist ihm das Objekt unmittelbar das Gegebene, und er unterscheidet es nicht von der Vorstellung des Objekts. Beides ist für ihn ein und dasselbe. Wundt gebraucht für diese Einheit den Namen ”Vorstellungsobjekt“.

    In diesem Stadium hat der Mensch überhaupt gar keine Veranlassung, den Begriff des Wirklichen zu bilden. Sie tritt erst ein bei ganz besonderen Erfahrungen, so bei Träumen, bei den sogenannten Sinnestäuschungen, bei falschen Aussagen eines anderen, die es zu prüfen gilt. Hier entsteht die Vorstellung des Scheines, des Unwirklichen, und damit ein Motiv zur Bildung des Wirklichkeitsbegriffes, denn vorher gab es nichts, wogegen er abgegrenzt werden konnte. Begriffsbildung setzt ja, wie wir wissen, Unterscheidung voraus.

    Die naive Frage, wie denn “in der Realität” die von uns wahrgenommenen Muster entstehen, und inwiefern unsere Modelle das “wirklichkeitsgetreu” wiedergeben, verliert bereits jeglichen Sinn, wenn auf die “Realität” bestenfalls aufgrund unsrere Wahrnehmungen induktiv geschlossen werden kann. Das mit dem induktiven Schliessen hat aber nicht überzeugend funktioniert, sodass Popper schliesslich das Pferd andersherum aufgezäumt hat, d.h., wenn wir schon nicht induktiv schliessen können, was der Fall ist, dann schliessen wir lieber deduktiv aus, was nicht der Fall sein kann. Das heisst aber auch, dass wir zur Beschreibung eines Phänomens alle Modelle gleichermassen gelten lassen müssen, die sich als observationell gleichwertig zeigen. So gesehen sind die Modelle dann eben unsere Nachbildungen dessen, was wir wahrnehmen, und nicht Abbildungen dessen, was objektiv gegeben ist.

  13. Hi Crys,
    natürlich gibt es nur subjektive Realitäten, das folgt wohl auch aus der speziellen Relativitätstheorie, aber wenn die Beobachter ihre Realitäten vergleichen, stellen sie fest, dass sie ziemlich ähnlich sind, und so können sie sich darauf einigen, was davon Realität sein soll, die beschrieben werden soll.

    Und natürlich hat man das Problem, dass die Ergebnisse der Experimente naheliegen, dass die “Realität”, auf die man sich geeinigt hat, womöglich gar nicht so ist, wie man naiv gemeint hat. Dem stimme ich voll zu. Es ist aber problematisch, wenn unter dieser Prämisse die Realität von der Physik mit seltsamen Objekten aus der Modellküche bevölkert wird, die dafür sorgen, dass die Realität – egal auf welche man sich geeinigt hat – anschaulich nicht mehr erklärt werden kann..
    Realität wird dann sozusagen von Amts wegen unerklärbar gemacht !

    Das gilt jedenfalls für die atomare und subatomare Realität, also da, wo wir die Bausteine aller Materie vermuten.

    Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, die Realität sei nun mal so. Dann hat man eben die Grenzen der Erkenntnis erreicht. Wenn ich sage: “Realität ist das, was ich messen kann”, dann ist es die methodische Strenge der Physik, die – lax gesagt – den Karren an die Wand fährt.

    Es wird der Physik nichts weiter übrig bleiben, als den Begriff der Realität, jedenfalls den für den Minimalkonsens, auf dem Beschreibungen aufbauen, zu erweitern. Die Metaphysik hat hierzu seit Aristoteles Riesiges geleistet. Man muss nur mal hinsehen.

    Grüsse
    Fossilium

    • fossilium schrieb (6. Februar 2014 0:27):
      > natürlich gibt es nur subjektive Realitäten, das folgt wohl auch aus der speziellen Relativitätstheorie

      Das ist eher der axiomatische Ansatz zur RT:
      “dass ich für das Wort “Zeit´´ die “Stellung des kleinen Zeigers meiner Uhr´´ [bzw. allgemein

      “meine Anzeige´´] setze”;
      sowie weitere “Festsetzungen” auf dieser Grundlage.

      > aber wenn die Beobachter ihre Realitäten vergleichen, stellen sie fest […]
      > dass die Ergebnisse der Experimente naheliegen, dass […]

      Ist denn “Feststellungen aus dem Vergleich von Realitäten” und “Ergebnisse der Experimente nicht (im Wesentlichen) das Selbe?

      Dann sollten auch deren (einzeln benannte, wesentliche) Konsequenzen eigentlich ein-und-die-selbe Konsequenz sein (vgl. Ockhams Klinge);
      und nicht einerseits

      – “stellen sie fest, dass sie ziemlich ähnlich sind, und so können sie sich darauf einigen,

      was davon Realität sein soll, die beschrieben werden soll.

      und wesentlich anders

      – “dass die “Realität”, auf die man sich geeinigt hat, womöglich gar nicht so ist“.

      Es geht doch um ein-und-den-selben Versuch, sich in der Frage “Wie sollen wir messen?”
      zunächst zu einigen, so dass eventuelle Messergebnisse nicht im Nachhinein bestritten und zurückgewiesen würden.

      > Es ist aber problematisch, wenn unter dieser Prämisse die Realität von der Physik mit
      seltsamen Objekten aus der Modellküche bevölkert wird, die dafür sorgen, dass die Realität – egal
      auf welche man sich geeinigt hat – anschaulich nicht mehr erklärt werden kann..

      Ganz recht. Dazu soll sich schon Bohr etwa folgendermaßen geäußert haben:

      “We must be able to tell our friends what we have done and what we have found/learned/learnt.”

      Es fragt sich nur, ob das als axiomatischer Ansatz zur Physik (und insbesondere Anwendungen in

      Atomar-ologie” bzw. “Subatomar-ologie”) aufgefasst wird;
      oder als Kritik und Abgrenzung davon.

      > Wenn ich sage: “Realität ist das, was ich messen kann”, dann ist es die methodische Strenge der Physik, die – lax gesagt – den Karren an die Wand fährt.

      Oder Ausdruck einer laxen Ausfassung vom “Messen“, die das Kind mit dem Bade auskippt.

  14. Halte die hier gezeigten Allgemeinplätze und Kriterien zu wissenschaftlichen Arbeitsweisen für
    ziemlich abgehobene Ablenkungsmanöver, die den allgemeinen Stillstand im Fortschritt wirklich
    befreiender Erkenntnisse durch Ersatzformalismus und triviale Qualitätsanforderungen ersetzen
    möchten.
    Besser wäre ein Forum oder eine Plattform ,die einen Vergleich oder Wettbewerb Neuer Ideen und
    Physikalischer Sichtweisen erlaubt, wo kompetente aber aufgeschlossene Betrachter positiv
    mitwirkend die Neuen Ansätze bestärken, untertützten – oder wenn sie gar nicht passen, an Stellen mit passender Akzeptanz weiterleiten.
    Damit könnte ich etwas anfangen und mancher andere auch .
    Gruss
    W.Schneider

  15. Herr Pössel,
    Sie haben die Gabe komplexe Zusammenhänge einfach darzustellen. Mir haben Sie einen Eindruck gegeben, was Wissenschaftstheorie überhaupt ist. Es lohnt, gelegentlich darüber zu reflektieren, wie die Kluft zwischen Alltagserfahrung und scheinbar abgehobener Theorie eben doch zu überbrücken ist. Nämlich schrittweise, durch eine Kette sich verfeinernder Modelle und dem pragmatischen Gebrauch zwangsläufig unpräziser, aber aber dafür handlicher Begriffe.
    Vielen Dank!

    PS: Ihre Engelsgeduld gegenüber persistent bornierten Kommentaren bewundere ich schon länger. Vermutlich betrachten Sie das als rhetorischeTrainingseinheit.

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