Geschichte und Gegenwart

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Die letzte Diskussion über Sprache als Geschichte hat uns, nach einem langen Weg über verschiedene Blickwinkel, in die Gegenwart gebracht. Wir haben gesehen, wie die Sprache, die mit ihren gegenwärtigen Begriffen und Konzepten unsere Denkweise gestaltet, die Gegenwart in die Vergangenheit bringt, wenn wir im Geiste »zurückreisen«. Dabei ist Sprache nur ein Aspekt für solche »Kontaminationen«.

Weil der Historiker in seiner Gegenwart lebt und aus ihr heraus denkt, erfolgt seine historische Arbeit ebenfalls in der Gegenwart. So ist das Produkt seiner Arbeit, nämlich die von ihm entworfene Geschichte, ebenfalls in der Gegenwart verankert.

Denken wir noch einmal an den metaphorischen Töpfer, mit dem wir diese Reihe begonnen haben und der in der Gegenwart Ton verwendet, um daraus einen Topf zu machen. Der Endzustand des Topfes hängt zwar auch, aber nicht nur von dem Tonmaterial ab, das aus alten Tagen stammen mag und aus dem der Topf gemacht wird; sondern ebenso von dem Können, den Vorlieben und der Zielsetzung des Töpfers, also von aktuellen Faktoren, die unweigerlich in seine Arbeit einfließen.

Das Material, aus dem der Töpfer seine Töpfe bzw. der Historiker seine Geschichten macht, steht in dieser Metapher natürlich für die Vergangenheit; wie wir nun wissen, besteht sie selbst aus Geschichten, die unser Töpfer bzw. Historiker jedoch für verlässlich hält und als eine solide Grundlage bzw. Prämisse für seine neue Arbeit nutzt. Doch in diese Arbeit fließt noch viel mehr, nämlich alles, was ihn – oft unbewusst – ausmacht, ja als Person seiner Zeit definiert: Seine persönlichen Positionen und Überzeugungen, seine Hoffnungen und Ängste.

Auch seine Prämissen selbst spiegeln oft genau das wider, was in seiner Zeit oder in seiner intellektuellen Umgebung als richtig gilt. Mit einer anderen Überzeugung, in einer anderen Epoche würde er eine andere Grundlage oder eine andere Perspektive für seine Arbeit verwenden – kurzum, ein anderes Tonmaterial für seinen Topf bzw. Geschichte. Kein Geschichtswerk kann gebührend verstanden werden, wenn man die Umstände seiner Entstehung ausklammert. Man denke etwa an die historischen Arbeiten eines Isaac Deutscher oder eines Eric Hobsbawm, die eng mit ihren politischen Überzeugungen zusammenhängen. Das ist wenig verwunderlich und ist im Prinzip bei jedem Historiker so: Da kein Mensch und auch kein Historiker außerhalb der Zeit an einem archimedischen Punkt stehen kann, muss jeder aus irgendeinem Zusammenhang heraus schreiben, irgendwie voreingenommen sein. Auch mein eigenes Geschichtsverständnis hängt eng mit der postmodernen Zeit zusammen, in der ich meine Laufbahn als Historiker begonnen habe.

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wie wir bereits gesehen haben, die Wirkung der Sprache, auf die wir ja angewiesen sind, um an die Vergangenheit überhaupt denken zu können. Sprache ist zwar nicht der einzige Aspekt, aber ein so zentraler, dass sie es verdient, hier noch einmal erwähnt zu werden. Erinnern wir uns also kurz daran, dass in der Sprache des Historikers und somit auch in seinen Beschreibungen der Vergangenheit sich naturgemäß seine eigene Zeit, also eben die Gegenwart widerspiegelt.

Die Wirkung der Gegenwart auf die (von uns wahrgenommene) Vergangenheit ist aber nicht nur in Bezug auf bestimmte Aspekte wie Sprache oder Politik problematisch, sondern bildet bereits an sich ein epistemologisches Problem, das kein Historiker überwinden kann. Da wir keinen direkten Zugang zur Vergangenheit haben, sondern auf unsere Vorstellungskraft, d.h. auf den Rückblick unseres geistigen Auges angewiesen sind, sind wir selbst immer mit dabei, wenn wir an die Vergangenheit denken; wir werden notwendigerweise ein Teil des Bildes, das wir uns von der Vergangenheit ausmalen. Ebenso wie bei dem Maler, der unmöglich ein Bild malen kann, ohne es zu beeinflussen, wirkt jeder Historiker, schon indem er sich eine Vergangenheit vergegenwärtigt, auf dieselbe ein.

Blickte also der romantische Historiker oft unreflektiert in die Vergangenheit, von der er wie Ranke annahm, dass er sie so beschreiben kann, wie sie »eigentlich gewesen« sei, so weiß der heutige Historiker um die Wirkung seines eigenen Rückblicks auf das Betrachtete bzw. dessen geistiges Erscheinungsbild. Das bedeutet, dass auch der Historiker, der bei der Konstruktion seiner Geschichte sich so eng wie möglich an die alten Quellen zu halten versucht, sich täuscht, wenn er glaubt, auf diese Art und Weise einen Zugang zu der Vergangenheit gefunden zu haben, »wie sie eigentlich gewesen ist«. Denn durch seine Arbeit – durch die Auswertung der Quellen, aber auch bereits durch ihre Lektüre – bringt der Historiker, ob bewusst oder nicht, seine Gegenwart mit in die Vergangenheit. Das Bild, das er sich mühevoll von dieser Vergangenheit erarbeitet, wird unweigerlich eine Mischung aus Vergangenem und Aktuellem sein.

So stellt eine Geschichte von Ranke über die Reformationszeit auch im 21. Jahrhundert eine Mischung dar, in der sich das 16. und das 19. Jahrhundert begegnen. Weil Geschichte eben immer der aktuelle Rückblick auf eine Vergangenheit ist, ist dem Historiker kein archimedischer Punkt für seine Betrachtungen möglich. Der archimedische Punkt erweist sich natürlich, wie vorher schon die Vorstellung von der »eigentlichen« Vergangenheit, als ein reines Theoriekonstrukt, das mit der historischen Praxis nichts zu tun hat.

Ich möchte also behaupten, dass die Gegenwart des Historikers bei der Entstehung seiner Geschichte eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die Vergangenheit, über welche er schreibt. Seine Gegenwart wirkt sich auf seine Arbeit, die Geschichtsschreibung, aus und beeinflusst seine Wahrnehmung der Vergangenheit. Nicht zuletzt gehört zu dieser wirksamen Gegenwart auch seine Zukunft, so paradox dies auch klingen mag: Die Hoffnungen des Geschichtsdenkers auf eine bestimmte Zukunft, seine Ängste vor einer anderen – all das schlägt sich in seiner Geschichte nieder; und obwohl sie als Geschichte erwartungsgemäß von Vergangenem handelt, ist folglich jede Geschichte immer fest und tief in ihrer jeweiligen Gegenwart verankert.

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www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

2 Kommentare

  1. Ein Historiker, der das 19. Jahrhundert gut kennt, könnte also die Geschichte des 20. Jahrunderts aus dem Blickwinkel des 19. Jahrhunderts beschreiben.

    • Ein Historiker, der das 19. Jahrhundert gut kennt, könnte also die Geschichte des 20. Jahrunderts aus dem Blickwinkel des 19. Jahrhunderts beschreiben.

      Variante:

      Ein Historiker, der heute das 19. Jahrhundert gut kennt, könnte also die Geschichte des 20. Jahr[h]underts aus seinem heutigen Blickwinkel (gehört noch zur ‘Geschichte des 20. Jahrhunderts’)seiner heutigen Kenntnis des 19. Jahrhunderts (folgend) beschreiben.

      Oder so ähnlich.

      MFG
      Dr. W (der dem Artikel oder der Artikelserie, für den oder für die er dankt, folgen konnte)

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