Ist das heutige Judentum plurizentrisch?

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Ab und zu bekomme ich Äußerungen zu hören, aus denen hervorgeht, das heutige Judentum würde sich in mehrere Zentren aufteilen. Wie tragfähig ist eigentlich diese Vorstellung?

Was damit gemeint ist, möchte ich am liebsten mit einem objektiv nachvollziehbaren, weil sozusagen öffentlichen Beispiel veranschaulichen. Als ich im Sommer 2008 an der Leo Baeck Summer University in Jewish Studies teilgenommen habe, sind dabei u. a. auch die Positionen der in Paris lebenden Geisteshistorikerin italienisch-jüdischer Herkunft Diana Pinto besprochen worden, die bisweilen über die Frage reflektiert, ob das "europäische" Judentum der heutigen Zeit sich zu einem mehr oder weniger ebenbürtigen Zentrum jüdischen Lebens entwickeln kann, und zwar neben den beiden bereits bestehenden Zentren. Mit ihren Worten: "Can Jews in Europe today come together to constitute a significant ‘third pole’ for a postwar Jewish world mainly established in Israel and America?" Pintos Sichtweise kann man etwa in "The Third Pillar?", einem auch online zugänglichen Beitrag erfahren. Ihre Vorstellung findet bei anderen Widerhall; erst vor kurzem etwa bei Julius H. Schoeps auf einer Fachtagung der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz (seinen Text ist hier zu finden).

Ganz abgesehen von der Frage, inwiefern jetzt oder in naher Zukunft von einem "europäischen" Judentum, das sich als solches versteht und dementsprechend agiert, die Rede sein kann bzw. könnte, möchte ich hier das Augenmerk auf eine problematische Prämisse richten, die Pinto jedoch nicht eigentümlich, sondern ziemlich weit verbreitet ist, nämlich, dass eine quantitativ relativ gut entwickelte Anhäufung von Juden schon an sich als ein ebenbürtiges "pole" oder "pillar" erachtet und somit mit Israel gleichgesetzt werden könne. Diesem Gedankengang entspringt eine logische und dennoch oft nur implizierte Schlussfolgerung, die hinter Pintos Vorstellung von einer dritten Säule des heutigen Judentums steckt; es ist die häufig vertretene Meinung, dass die Juden in den USA ein derartiges Zentrum auch heute noch bilden würden.

Ob es aber außerhalb des jüdischen Staates überhaupt gleichwertige Zentren geben kann?

Um eine jüdische Auslandsbevölkerung, etwa die US-amerikanische Judenheit, mit dem jüdischen Staat gleichzusetzen, muss man zunächst eine tragfähige Vergleichsbasis finden, auf der die jeweilige Minderheit im nichtjüdischen Ausland den vom jüdischen Staat gesetzten Maßstäben erfolgreich standhalten kann. Die auf ihre Konkurrenzfähigkeit geprüfte Minderheit soll also nicht nur quantitativ ins Gewicht fallen, sondern ihr quantitatives Potenzial auch in qualitative Bedeutung verwandeln können. Das heißt: Um ihre Gleichwertigkeit nachzuweisen, muss die mit Israel verglichene Minderheit – zumindest teilweise – jene Merkmale aufweisen, welche das jüdische Gemeinwesen in Israel gerade in jüdischer Hinsicht auszeichnen und als Zentrum des heutigen Judentums erscheinen lassen.

In diesem Zusammenhang stellen sich zunächst grundsätzliche Fragen wie z. B.: Gibt es in den USA jüdische Gesetzgebung? Gibt es dort eine jüdische Regierung? Ein jüdisches Gerichtswesen, das alle Lebensbereiche, darunter auch den strafrechtlichen, umfasst?

Von den obigen Grundfragen leiten sich dann weitere Fragen ab, anhand deren man die Tragfähigkeit des Vergleiches prüfen muss. Ein wichtiger Punkt in einem solchen Vergleich ist die legitime Ausübung von Gewalt: Gibt es weltweit irgendeine jüdische Bevölkerung außerhalb des jüdischen Landes, die eine jüdische Polizei hat oder, um die Problematik noch mehr zuzuspitzen, über ein jüdisches Militär verfügt? Hierzu gehören notabene auch alle mit der Ausübung von Gewalt einhergehenden Fragen, die bei der öffentlichen Entscheidungsfindung vornehmlich als ethische Dilemmata auftauchen, etwa in Bezug auf die Kriegsmoral oder auf die Bewältigung von Entführungen, Geiselnahmen und sonstiger Gefangenschaft (man denke etwa an die noch immer aktuellen Fälle von Jonathan Pollard und Gilad Schalit). Gibt es irgendeine jüdische Gesellschaft außerhalb Israels, die sich mit diesen äußerst schwierigen Fragen auseinander setzen muss, weil sie dort keine theoretischen, sondern ganz praktische, ja lebensnotwendige Fragen sind?

In "The Third Pillar?" erklärt Pinto: "In the immediate post-war period, the setting seemed strikingly clear: Jewish life in Europe was finished. Israel constituted the future, along with America even though the two poles of world Jewry lived in an uneasy balance. American Jews had the security and the clout, Israelis the historical legitimacy and the universal ‘meaning.’ " Pintos Wortwahl lässt den Eindruck entstehen, jede der beiden Bevölkerungen – in den USA und Israel – hätte bestimmte, ihr eigentümliche Vorzüge, die sie ein "Zentrum" hätten werden lassen können. Jedoch zeichnet sich Israel als das jüdische Zentrum nicht nur durch die von Pinto genannten, eher abstrakten Merkmale aus, sondern vornehmlich durch die ganz konkrete Notwendigkeit, tagtäglich Politik zu machen und Probleme zu bewältigen, die erst in einer souveränen Gesellschaft überhaupt entstehen. Demgegeüber stellen die Juden in den USA keine eigenständige Gesellschaft dar.

Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Israel ist im ganzen Abendland das einzige Land, in dem der Umgang mit (eigentlich) unerwünschten Flüchtlingen und (nur halbwegs) erwünschten Gastarbeitern zwangsläufig zu einer jüdischen Frage wird, welche die unterschiedlichen Akteure im politischen Diskurs je nach Standpunkt durch Bezugnahmen auf jüdische Schriften, die jüdische Geschichte, jüdische Moralvorstellungen usw. beantworten, vom kleinen Mann auf der Straße über Denker und Schriftsteller bis hin zu den Parlamentsmitgliedern, den Ministern, dem Premierminister und dem Staatspräsidenten. Israel ist somit weltweit das einzige Land, in dem dieses Problem sich allen drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) als eine ausgesprochen jüdische Frage stellt und dementsprechend behandelt wird.

Es geht also nicht nur um "historical legitimacy" und "universal meaning". Denn in erster Linie sind es eben die staatliche Souveränität und die mit ihr zusammenhängende Verantwortung, von denen der qualitativ unüberbrückbare Unterschied zwischen der jüdischen Gesellschaft im jüdischen Lande einerseits und den jüdischen Minderheiten im nichtjüdischen Ausland andererseits herrührt. Solange es keinen jüdischen Staat gibt außer Israel und keine jüdische Souveränität außerhalb Israels, fehlt jedwede objektive Grundlage, von mehreren ebenbürtigen Zentren zu sprechen.

Freilich umfasst dieser qualtitative Unterschied auch andere, ebenfalls wichtige Aspekte jüdischen Lebens als jene der Staatspolitik: Nur im jüdischen Land wird von der Mehrheit der Bevölkerung eine jüdische Sprache gesprochen, die überdies auch die jüdische Nationalsprache ist. Abgesehen von den heutigen Überbleibseln der stalinistischen Initiative, die Juden in den Fernen Osten umzusiedeln, ist Israel das einzige Land, wo eine jüdische Sprache sich der Rechtsstellung als offizielle Sprache erfreut. Nirgendwo sonst erscheinen jährlich – absolut, geschweige denn relativ bemessen – so viele jüdische Bücher wie im jüdischen Land, nirgendwo sonst werden jährlich so viele jüdische Theaterstücke aufgeführt und besichtigt. Denn es ist das einzige Land weltweit, in dem das Jüdische die Leitkultur bildet; in keinem anderen Land stellen jüdische Literatur, jüdische Musik, jüdische Kunst usw. mehr als ein Randphänomen dar.

In einer etwas anderen Fassung von "The Third Pillar?" erklärt Pinto: "In the future, European Jewry may well end up being a point of equilibrium between the Israeli and the American poles of world Judaism." Allerdings gibt es keinen "American pole". Denn die US-amerikanische Öffentlichkeit ist keine jüdische; sie kann auch keine jüdische werden, aus dem einfachen Grund, dass die Juden in den USA, so sehr sie in wichtigen Bereichen "überrepräsentiert" sein mögen, im Endeffekt eine kleine, ja immer kleiner werdende Minderheit sind. Daher sind auch der öffentliche Diskurs und die politische Entscheidungsfindung in den USA, abgesehen von wenigen Ausnahmen auf der Kommunalebene, keine jüdischen.

Bei allem Respekt von den Leistungen, die aus dieser jüdischen Auslandsbevölkerung hervorgingen und -gehen, darf man nicht vergessen, dass öffentliche Diskussionen über die wichtigsten Fragen, die sich einer Gesellschaft stellen, ohne Souveränität bestenfalls "Vollgas im Leerlauf" sind. Wie ein jüdisches Steuerwesen, jüdische Wohlfahrtspflege, eine jüdische Umweltpolitik, eine jüdische Kriegsmoral usw. usf. gestaltet werden, darüber entscheidet heutzutage die weltweit einzige jüdische Öffentlichkeit, nämlich diejenige des jüdischen Staates.

Jüdisches Leben im nichtjüdischen Ausland ist ein Phänomen, das uns seit dem Babylonishcen Exil begleitet. Auch wenn es heutzutage immer mehr an Gewicht und Bedeutung verliert, wird es nie verschwinden; vielmehr ist es als normal zu bewerten, zumal es auch in anderen Völkern bedeutende Bevölkerungen außerhalb des eigenen Landes gibt (man denke etwa an die Ungarn oder die Deutschen). Aber jüdische Gemeinden, so sehr sie als Minderheiten auch blühen mögen, kann man grundsätzlich nicht mit dem jüdischen Staat gleichsetzen. Daher kann die Hypothese von gleichwertigen Zentren des heutigen Judentums m. E. nicht angenommen werden.

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

10 Kommentare

  1. Historischer Vergleich

    Deine Analyse stützt sich sehr stark auf das (Nicht-)vorhandensein staatlicher Strukturen. Unter diese Prämisse hast Du natürlich recht. Offensichtlich gibt es staatliche jüdische Strukturen weder in USA noch in Europa.

    Dann verlassen wir mal die Gegenwart und gehen zurück in die Vergangenheit. Ist es nach Deiner Auffassung sinnvoll, von Zentren jüdischen Lebens in Babylon und Jerusalem in amoräischer Zeit zu sprechen? Oder nehmen wir das Hochmittelalter: Waren Aschkenas und Sfard Zentren jüdischen Lebens?

    Ohne Pintos Artikel bereits gelesen zu haben (Danke für den Hinweis, ich hole das bei Gelegenheit b”n nach): Ich nehme an, sie bezog sich mehr auf die kulturell-geistige Ebene.

    Schabat Schalom

    YM

  2. @ Yankel Moishe

    1.

    Meine Behauptung ist, dass das Staatliche eben nicht nur Strukturen ist. Natürlich gibt es beim Staatlichen wie auch beim Religiösen etc. Strukturen, durch die ein Staat oder eine Religion in Erscheinung tritt; aber genauso, wie die Bedeutung des Protestantismus nicht im Vorhandensein evangelischer Kirchenstrukturen besteht, besteht auch die Bedeutung des jüdischen Staates nicht im bloßen Vorhandensein staatlicher Strukturen.

    So ist etwa nicht nur das bloße Bestehen eines jüdischen Militärs wichtig, sondern auch die Bedeutungen, die dem Strukturellen innewohnen, z. B. die Tatsache, dass mit dem jüdischen Militär die jüdische Kriegsmoral enttheoretisiert wird (rabbinisch ausgedrückt: dass damit die Kriegs-Halachot weiterentwickelt werden).

    Wenn du willst, lässt es sich auch andersherum formulieren: Das Vorhandensein jüdischer Staatsstrukturen ist gerade deswegen wichtig, weil sie fürs Judentum immense Bedeutungen in sich bergen.

    2.

    Natürlich waren in jenen Epochen die Räume, die du genannt hast, Zentren jüdischen Lebens. Allerdings sind solche Bewertungen immer relativ: Für deutsche Verhältnisse sind Berlin und München sicher Zentren jüdischen Lebens (weil man sie mit Orten wie Dresden oder Heidelberg vergleicht), aber für das heutige Judentum überhaupt sind die beiden Städte vollkommen randständig.

    Wenn wir also von Epochen reden, in denen Israel zwar fortbestand, aber in stark religionsartiger Form und am Rande der Geschichte, sind die Maßstäbe, anhand deren wir in den damaligen Zusammenhängen nach “Zentren” suchen, von vornherein relativ niedrig gesetzt. Nicht umsonst konnte die babylonische Judenheit erst zu einem Zeitpunkt an Bedeutung gewinnen, als Israel sich in einem miserablen Zustand befand und kaum noch nationales Leben im eigenen Lande hatte.

    3.

    Ich glaube nicht, dass man das Kulturell-Geistige, um deinen Begriff zu verwenden, vom sonstigen Volksleben treffen kann, also vom breiten Zusammenhang bzw. vom Politischen, das alles umfasst. Die Eigenschaft der jüdischen Gottheit als מתיר אסורים, Befreier der Gefangenen, kann ihre volle Bedeutung erst bekunden, wenn es überhaupt möglich ist, dass das Volk als solches – leider – Gefangene in fremder Hand hat.

    Natürlich ist es, wenn auch eher theoretisch betrachtet, grundsätzlich möglich, dass ein Jude, der im US-amerikanischen Militär kämpft, bei einer künftigen Auseinandersetzung mit Nordkorea gefangen genommen wird; aber man kann diese fast zufällige Situation, in der der Gefangene nicht fürs jüdische Volk, nicht im jüdischen Militär und nicht als Jude gekämpft hat, dementsprechend nicht mit der Situation von etwa Gilad Schalit gleichsetzen. Ohne die realen Lebensumstände verliert das Kulturell-Geistige seinen eigentlichen Bezugspunkt.

    Aber selbst wenn diskussionshalber versucht wird, das Kulturell-Geistige quasi separat zu betrachten, sehe ich nicht, inwiefern die (an sich erfreulichen) Erzeugnisse unter den Juden in den USA sich zu einem “Zentrum” anhäufen ließen. Ob Literatur, Theater, Musik oder bildende Kunst: Die US-amerikanische Judenheit bleibt nicht nur aus quantitativen, sondern vor allem aus qualitativen Gründen, nämlich aufgrund ihres Daseins als Minderheit, weit zurück. Selbst die religiösen Ausbildungsstätten, die Diamanten in der amerikanisch-jüdischen Krone, lassen ihre nächste Generation ein gutes Jahr im jüdischen Land leben – nicht umgekehrt.

    Nur im Hinblick auf den Finanzmarkt gibt es m. E. gute Gründe, die US-amerikanische Judenheit als ein Zentrum zu erachten, allerdings passt es nur schwerlich in den von dir genannten kulturell-geistigen Bereich.

    Git Woch

  3. Danke für Deine Ausführungen.
    Natürlich kann eine jüdische Existenz im Galuth niemals gleichartig oder gleichwertig sein zur einer jüdischen Existenz in Eretz Jisrael. Das versteht sich von selbst. (Ausserdem sollten wir den Keduschah-Aspekt nicht unerwähnt lassen.)

    Dennoch scheint mir, dass sich Dein Argument teilweise symmetrisch umkehren läßt. Natürlich stellen sich einem Juden in einem jüdischen Staat Fragen, die sich außerhalb nicht stellen. Dies gilt allerdings auch umgekehrt. Gerade der Verlust des eigenen Staates hat der Fortentwicklung des jüdischen Rechts zwangsläufig einen Schub gegeben.

    Wenn wir die demographische Entwicklung in die Zukunft fortschreiben, wird Deine Frage keine mehr sein. Die amerikanische Judenheit schrumpft numerisch, die israelische wächst.

  4. @ Yankel Moishe

    “Gerade der Verlust des eigenen Staates hat der Fortentwicklung des jüdischen Rechts zwangsläufig einen Schub gegeben.” – Ja, aber in eine weitgehend theoretische Richtung (“Vollgas im Leerlauf”, wenn ich aus dem obigen Beitrag zitieren darf). Das gilt fürs jüdische Denken überhaupt: Auch die Blüte dessen, was fremdsprachig “jüdische Mystik” genannt wird, ist als Kanalisierung schöpferischer Energien mangels natürlichen Volkslebens in den gedanklich-theoretischen Bereich. Damit will ich nicht sagen, dass diese Entwicklung bedauert werden sollte, schließlich ermöglichte sie Israel, die lange Zeit, in der es als Volk an den Rand der Geschichte “verbannt” war, zu überleben. Aber es war – und da sind wir uns wohl einig – kein Ideal.

    “Die amerikanische Judenheit schrumpft numerisch, die israelische wächst.” – Es gibt Vermutungen, nach denen es im kommenden Jahr erstmals seit der Vertreibung der 10 Stämme wieder zu einem Zustand von “רוב בניה עליה” kommen werde…

  5. @Yoav

    > natürlichen Volkslebens

    Ich weiß nicht so genau, was Du darunter verstehst. Aber wie Du Dir denken kannst, bin ich kein Anhänger der These, dass das jüdische Volksleben in den gleichen Bahnen verlaufen sollte, wie das Leben der anderen Völker.

    > Rand der Geschichte

    Dafür, dass wir angeblich am “Rand der Geschichte” waren, hatten und haben die Völker dieser Welt aber eine ziemlich merkwürdige und intensive Juden-Obsession.

    > kein ideal

    Ich bin nach wie vor vom geistigen Schaffen des jüdischen Volkes in seiner staatenlosen Periode schwerst beeindruckt. Ob es mit Staat über eine längere Dauer ebenso herausragendes zur Welt beizusteuern vermag, muss erst noch bewiesen werden. Ich fände es schade, wenn das jüdische Genius auf Normalmass zurückgestutzt würde. Auf den außerordentlich hohen Blutzoll der ehemaligen Sonderstellung bin ich aber natürlich gerne bereit, dankend zu verzichten.

    > “Vollgas im Leerlauf”

    Ich persönlich finde die Relativitätstheorie eines (in dem Fall sogar hochassimilierten) Galuth-Juden einen wichtigeren Beitrag für die Welt als eine weitere sekuläre Steuergesetzgebung in einem Staat, der von den Nachfahren des Volkes der Bibel bewohnt wird.

    Gute Nacht

    YM

  6. @ Yankel Moishe

    Warum vergleichst du eine Spitzenleistung bzw. einen Ausnahmefall (Einstein) mit einer – an sich freilich sehr wichtigen – Alltagserscheinung (Steuerwesen)? Genauso gut könnte ich auch sagen, dass ich ein weitgehend israelisches Werk wie die hebräische Bibel als einen wichtigeren Beitrag für die Welt erachte als die Wochenzeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, aber einen solchen Vergleich zu ziehen, finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich sinnlos.

    Ohnehin glaube ich, wie gesagt, dass das Judentum nicht auf das Geistige und Kulturelle reduziert werden darf. Zu einem ordentlichen Kuchen gehört auch das Schlagobers, klar, aber den Teig darf man nicht vergessen. Im Gegenteil: Bei allem Respekt vor dem (sozusagen “rein”) geistigen Schaffen im In- und Ausland, besteht die größte Leistung unseres Volkes seit Beginn der Moderne in der erfolgreichen Errichtung und Aufrechterhaltung eines souveränen, weitgehend gut funktionierenden Staates samt allem, was dazu gehört – und zwar nicht in Uganda, wo es höchstwahrscheinlich leichter (gewesen) wäre, sondern im eigenen Lande.

    Mit “natürlichem Volksleben” meine ich das, wodurch sich das Gemeinwesen anderer Völker kennzeichnet: Die Synergie von eigenem Land, eigener Sprache und eigenem Staat, durch die sich auch die eigene Kultur erst recht entfalten kann. Ohne diese Voraussetzung kann ein Volk kaum als solches agieren (sondern bestenfalls nur Individuen und Gemeinden, die Fremde zu beeinflussen versuchen, welche die Macht haben) und bleibt somit zwangsläufig am Rande der Geschichte (wo es, wie wir sehen, fast nur noch Geistiges leisten kann).

    Ich glaube nicht, dass in den letzten 60 Jahren im jüdischen Lande weniger an Geistigem geschaffen wurde als während irgendwelcher anderen sechs Jahrezehnte in unserer Geschichte, aber selbst wenn dem so wäre, würde ich jederzeit die Mittelmäßigkeit des natürlichen Volkslebens bevorzugen vor irgendwelchen Höchstleistungen einer armseligen Existenz.

  7. @Yoav

    Die Wiederholung des Alltäglichen ist natürlich notwendig. Bringt aber die Welt nicht massgeblich voran. Wofür sind die auf der Welt? Der Finanzbeamte würde Dir sicher freudig zustimmen: Für die Steuer 😉

    Du glaubst anscheinend, das physische/weltliche ist das primäre, und das geistige sekundär. Ist in meinem Weltbild nun mal genau andersherum. Ich halte es fast schon für ein Privileg, in eine geistige Rolle gedrängt zu sein.

    Selbstverständlich wertschätzt die jüdische Tradition ein jüdisches Steuerwesen – wenn es durchgeistigt ist; eine jüdische Umweltpolitik – wenn sie durchgeistigt ist; eine jüdische Wohlfahrtspflege – wenn sie durchgeistigt ist.

    In der Summe sehe ich, dass wir uns einig darüber sind, dass wir uns mal wieder uneinig sind. Was nicht weiter verwunderlich ist, weil wir verschiedene Perspektiven haben.

    Wie soll ein zionistischer Pionier so schön formuliert haben: “Was uns noch fehlt, sind Pferdediebe, dann sind wir eine ganz normale Nation.” Erwidert sein Freund: “Die Pferdediebe haben wir schon. Was noch fehlt, sind Pferde.” 😉

  8. @ Yankel Moishe

    “Wofür sind die auf der Welt?” – Wer? Die Juden?

    “Ich halte es fast schon für ein Privileg, in eine geistige Rolle gedrängt zu sein.” – Vielleicht irre ich mich, aber mir scheint, dass du dir Sorgen machst wegen der Marke “Jüdisch”…

    “wenn sie durchgeistigt ist” – umso besser, wenn; da sind wir uns wohl einig. Aber das bildet keine Voraussetzung, im Gegenteil: Die hasmonäischen Herrscher assimilierten sich in die hellenistische Welt und lösten sich ziemlich rasch von jener frommen, assimilationsfeindlichen Tradition, in deren Namen die Souveränität wieder erkämpft worden war; ja, teilweise wandten sie sich sogar gegen die makkabäische Tradition und ihre jeweiligen Vertreter. Und dennoch bleibt uns das Hallel von Chanukka bis heute noch erhalten. Warum? Weil selbst eine schlecht geführte Souveränität ist besser als jede fremde Herrschaft – und für diese *an sich* ganz wertvolle Eigenständigkeit gilt es Gott zu loben.

    “weil wir verschiedene Perspektiven haben.” – Ja, wie schon mehrmals in diesem Blog 🙂

  9. @Yoav

    Sorry. Sollte heissen “Wofür sind wir auf der Welt?” Sowohl wir Juden als auch wir Menschen…

    Ich gebe zu, ich habe es versäumt mir die Marke beizeiten schützen zu lassen 😉

    Wertschätzen wir denn irgendwo jenen hasmonäischen Abfall? Ich verstehe Dein Argument bzgl des Nicht-Absetzens von Hallel an Chanukah nicht…

    Es gibt da ja noch ein extremeres Beispiel: Wir wünschen uns die Wiedereinsetzung der davidischen Monarchie, obwohl sich deren letzte Vertreter als nicht besonders würdig erwiesen haben.

    Bzgl souverän: Was ist der unterschied zwischen der israelischen und der amerikanischen Armee? Die US-Armee wird vom amerikanischen Steuerzahler finanziert. Und die israelische … auch 😉

  10. @ Yankel Moishe

    Das Argument ist, dass die zurückblickende Hochschätzung der jüdischen Souveränität zur hasmonäischen Zeit nicht von irgendwelchen Folgeleistungen abhängt, sondern nur von dieser Leistung selbst, also von der jüdischen Souveränität an sich…

    Bzgl. USA: Sie finanziern in erster Linie ihre eigene Waffenindustrie und zwar auf Kosten der jüdischen, die immer weniger produzieren kann, weil Zahal die US-amerikanische Beihilfe nur in den USA ausgeben darf. Daraus resultiert, dass die jüdische Waffenindustrie immer kleiner wird, Liegenschaften geschlossen werden und viel Wissen verloren geht (oder nicht weiter entwickelt wird und notwendigerweise veraltet). Wie du siehst, bin ich also kein Befürworter dieser Beihilfe (denke etwa an die Entwicklung des Lawie, die fünf Minuten vor zwölf beendet wurde, weil die USA keine Konkurrenz zu ihren Kampfjets wollten!).

    Der große Unterschied besteht aber in der Tatsache, dass die US-Amerikanische Armee kein eigenes Blut zur Erhaltung des jüdischen Gemeinwesens im jüdischen Lande gespendet, sondern, wenn es von ihr abgehangen hätte, das jüdische Projekt längst aufgegeben hätte. Die Kampfjets alleine können noch keinen Kampf entscheiden, geschweige denn ganze Kriege; viel wichtiger ist die מסירות נפש, die Hingabebereitschaft und Tapferkeit derjenigen, die um die eigene Heimat kämpfen. Diesen Soldaten haben wir zu verdanken, was wir trotz aller Gefahren noch haben. Wäre es jedes andere Militär gewesen als das jüdische, so wäre unsere Heimat längst wieder eine rein geistige geworden…

Schreibe einen Kommentar