Recht und Geschichte, aktueller als gedacht

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Nun hat also der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärt, dass der Holocaust an den Armeniern geleugnet wegen darf bzw. unter dem Schutz der Meinungsfreiheit steht.

Erst vor wenigen Monaten habe ich hier aus einem damals aktuellem Anlass wieder über David Irving geschrieben. Daraufhin haben mir einige gesagt und geschrieben, ich hätte damit abermals das Ewiggestrige an mir gezeigt. Ich denke, dass schon die Existenz des letzten Straßburger Prozesses die Aktualität des Problems zur Genüge erhellt. Der Richterspruch lässt zudem hoffen, dass eine Verbesserung nicht in die unabsehbare Zukunft verschoben werden müsste.

Denn auch wenn die Richter den Vergleich mit dem jüdischen Holocaust ausschließen möchten, beweist schon ihr explizites Bemühen hierum, dass dieser Vergleich geradezu Not tut und sich keineswegs ausschließen lässt. Damit geben die Richter zu, dass sie diskriminieren; an und für sich erst mal unproblematisch, ist es doch interessant, wie sie das begründen.

Während die Debatte über den armenischen Holocaust noch nicht “abgeschlossen” sei, beruhe unsere Auffassung vom jüdischen Holocaust auf “konkreten historischen Fakten”. Dazu muss man sich folgende Fragen stellen:

1. Wer entscheidet, wie eine historische Debatte abgeschlossen wird, und wann sie als abgeschlossen gelten muss/kann/darf?

2. Wer formuliert historische Fakten? Wer entscheidet, wann sie als konkret gelten, und warum?

Wer mich und meine Texte seit dem letzten Jahrzehnt begleitet, weiß, wie ich zum historischen Sachverhalt stehe. Was mich hier interessiert ist vielmehr das Aufeinanderprallen von Geschichtspolitik und Rechtsprechung, von dem wir bezüglich dieses Sachverhalts immer wieder aktuelle Beispiele haben. Es ist nämlich alles andere als klar, worüber hier eigentlich geurteilt wurde. Über die Geschichte? Oder war es eher ein politischer Prozess? Anscheinend beides zugleich, wobei sowohl bei Ersterem als auch bei Letzterem die Berechtigung des Richtens ziemlich wackelig erscheint.

Übrigens hat sich bei mir nach dem Text vom September einer gemeldet und angekündigt, er werde mich wegen des letzten Absatzes anzeigen. Ob er das getan hat, weiß ich nicht, aber die (Sitten-?) Polizei hat mich bislang dankenswerterweise in Ruhe gelassen.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

9 Kommentare

  1. “… die Berechtigung des Richtens ziemlich wackelig erscheint.”

    Genau wie die aussergerichtliche BEURTEILUNG unserer gleichermaßen “verantwortungslosen” Kommunikation im geistigen Stillstand seit der “Vertreibung aus dem Paradies” – ich erkenne nur blöd-, stumpf- und wahnsinnige INTRIGEN im “freiheitlichen” und zeitgeistlich-kreislaufenden Wettbewerb um … 😉

  2. Die Pressemitteilung des EMGR zum Gerichtsfall die Schweiz versus Mr Perincek in conviction for denial that the atrocities perpetrated against the Armenian people in 1915 and years after constituted genocide was unjustified scheint mir lesenswert. Entscheidend für das Bekenntnis des EMGR zur Meinungsfreiheit scheint es zu sein, dass Mr Perincek lediglich den Begriff Genozid für die Massaker an den Armeniern in Frage stellte, nicht aber, dass es zu Gewaltsamkeiten kam. 

    The Court took the view that Mr Perinçek had engaged in speech of a historical, legal and political nature which was part of a heated debate. 

    Und ob es ein Genozid war, könne man tatsächlich in Frage stellen.

    1) The existence of a “genocide”, which was a precisely defined legal concept, was not easy to prove. 

    2) Lastly, the Court observed that those States which had officially recognised the Armenian genocide had not found it necessary to enact laws imposing criminal sanctions on individuals questioning the official view, being mindful that one of the main goals of freedom of expression was to protect minority views capable of contributing to a debate on questions of general interest which were not fully settled.

    Dem Gericht scheint es hier vor allem um den Begriff Genozid zu gehen, der auch ein Rechtsbegriff ist und dessen Anerkennung auch Rechtsfolgen haben kann, beispielsweise in der Form von zu leistenden Reparationszahlungen. Der Angeschuldigte, Mr Perincek, hat nur die Berechtigung dieses Begriffs in Frage gestellt, die Massaker aber nicht bestritten und auch keinen Hass verbreitet. Zitat:

    1) The Court found it necessary to point out that Mr Perinçek had never questioned the massacres and deportations perpetrated during the years in question but had denied the characterisation of those events as “genocide”.

    2) Mr Perinçek had never in fact been prosecuted or convicted for inciting hatred. Nor had he expressed contempt for the victims of the events.

    Einstufung des EMGR-Urteils Es gilt Meinungsässerungsfreiheit über Begriffe, solange diese nicht juristisch bindend festgelegt sind. Beim Holocaust ist das der Fall nicht aber beim Völkermord an den Armeniern

      • Der Begriff des Genozids bezeichnet auch einen juristischen Straftatbestand. Dazu liest man in der Wikipedia:

        Ein Völkermord oder Genozid ist seit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht, der nicht verjährt.
        Gekennzeichnet ist er durch die spezielle Absicht, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“

        Wer im juristischen Sinn vom Völkermord an den Armeniern spricht, bezieht sich also auf einen Straftatbestand. Das hat grosse Konsequenzen. Im Falle des Holocaust wurde dieser Begriff von den “Täterländern” akzeptiert. Nach Argumentation des EMGR kann man also den Holocaust nicht mehr in Frage stellen. Es handelt sich um einen Völkermord. Anders bei den Massakern an den Armeniern.
        Das Urteil des EMGRs ist also nicht ein Blankocheck für die Meinungsässerungsfreiheit, sondern er erlaubt die freie Meinungsässerung nur solange sich die Meinung nicht auf einen juristisch allgemein anerkannten Tatbestand bezieht.

        • Wir haben hier doch mit zwei verschiedenen Sachen zu tun:

          1. Der Genozid an sich als Straftatbestand mit seiner eigenen Problematik (Hannah Arendt etc.)

          2. Die Wahrnehmung des Genozids, also der Genozid als Gesprächsthema.

          Was im 1. WK den Armeniern widerfahren ist, spielt in Bezug auf den Straßburger Richterspruch keine Rolle – schließlich liegt es, so oder so, nicht im Ermessen heutiger Richter. Es geht nur um die Wahrnehmung.

          Die Kriminalisierung von Völkermord nach dem 2. WK ist eine Sache, die mit dem Prozess in Straßburg nichts zu tun hat. Dieser hat vielmehr mit der anderen Sache zu tun, nämlich mit der Kriminalisierung von Wahrnehmung bzw. der Äußerung von Wahrnehmungen.

          Der dazugehörige Straftatbestand ist folglich nicht der Genozid, sondern die Leugnung eines Genozids. Wie ein Genozid an sich definiert ist, spielt in der Gesetzgebung bzgl. der Leugnung des Genozids an den Juden keine Rolle. Auch in den Ländern, in denen diese negative Meinungsäußerung bzgl. des jüdischen Holocaust erlaubt ist (bspw. in den USA), bleibt der Genozid an sich verboten.

          Kurzum sind es zwei Sachen, zwei ganz unterschiedliche Straftatbestände: zum einen ein Völkermord, zum anderen das Sprechen über einen Völkermord. Anders formuliert: zum einen die Gegenwart, zum anderen die Geschichte.

  3. Ist jeder Massenmord eine Genozid könnte man sich fragen. Da ist der Begriff Genozid kein Muss. Verglichen mit dem Holocaust, kommt die Geschichtsschreibung nicht an die erschöpfend ausgiebige Literatur zum Holocaust ran, auch wenn die meisten Historiker auf der Welt von einem armenischen Massenmord sprechen.
    Aber ich kann sagen, das die Situation heute um einiges besser ist als vor 20 Jahren. Heute kann man öffentlich darüber sprechen in der Türkei, das wäre vor 20 Jahren ziemlich schwierig gewesen um es diplomatisch auszudrücken.

  4. Yoaf Sapir:
    “Können historische Begriffe “juristisch bindend festgelegt” werden? Was bedeutet das für die Geschichtswissenschaft?”

    Juristisch wird erst etwas festgelegt, wenn man sich darüber streitet, z.B., weil Holocaust-Leugner pseudowissenschaftliche Debatten führen. Dabei sind Gesetze, Gerichte und historische Urteile alle Menschenwerk und somit fehlbar. Das betrifft nicht nur Historiker sondern auch alle anderen Bereiche, wo etwas juristisch definiert wird. Wenn Historiker glaubhaft machen können, dass sie eine seriöse, wissenschaftliche Diskussion führen, können sie sich immer auch auf die Freiheit der Wissenschaft beruhen (in den Ländern, wo sie gewährt wird). Holocaustleugner können nicht glaubhaft machen, dass sie eine seriöse, wissenschaftliche Diskussion führen, da hilft auch kein Dr. vor dem Namen.

  5. Nicht mit Holocaust vergleichbar

    Die Richter in Strassburg betonen weiter, dass sich die vorliegende Frage klar von der Bestreitung des Holocausts unterscheidet. (Quelle)

    Vielleicht wird noch eines Tages von selber Richterschaft festgestellt werden, dass der Vergleich strafbar sei.

    “Hübsch” auch die Feststellung, dass kein internationaler Konsens vorliege, was immer dies auch nahelegen soll…

    MFG
    Dr. W

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