Sprache als Geschichte

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

In den letzten Beiträgen in dieser Reihe habe ich kurz erwähnt, dass unsere Sprache das Mittel ist, mit dem wir uns sehr weit zurückliegende Vergangenheiten vergegenwärtigen, also im Geiste erreichen können.

Diesen Punkt möchte ich nun weiter ausführen und zwar vor dem Hintergrund, dass er leicht missverstanden werden kann, nämlich so, als ob hier darum ginge, dass die Historiker, etwa im Gegensatz zu Archäologen, schriftliche Quellen benutzten, die sich nun mal eben durch ihre Verwendung von Sprache von anderen Funden unterscheiden.

Doch das ist nicht die Sprache bzw. Sprachlichkeit, die ich meine. Mir geht es um etwas anderes, dass eigentlich nicht nur den Historiker, sondern etwa auch den Archäologen und eigentlich den Menschen als solchen charakterisiert, sobald er an eine Vergangenheit »zurückdenkt«, indem er sich diese vorstellt.

Denken wir etwa an einen Archäologen, der eine skythische Grabanlage untersucht. Durch Betrachtung der Funde kann er sie auswerten, zuordnen, interpretieren. Aber warum? Würde ein Tier dieselben Funde betrachten, so käme dabei ebenso wenig herauskommen wie vermutlich bei den Protomenschen, die vor der Entstehung menschlicher Sprachfertigkeiten auf diesem Planeten lebten und über kein historisches Bewusstsein verfügten. Unser Archäologe ist aber anders, denn er sieht die Funde nicht nur; er nimmt sie auch mit dem geistigen Auge wahr und begreift sie als Ausdrücke einer Kultur. Das geschieht eben durch Sprache bzw. durch die besonders menschliche Sprachlichkeit, die abstrahieren kann.

Unsere menschliche Sprache ist also nicht nur die technische Möglichkeit, mit der der eine Archäologe einem anderen seine Gedanken vermitteln kann; sie ist in erster Linie die geistige Fähigkeit, die dem Einzelnen überhaupt den Zugang zu etwas so Abstraktem bietet wie eine Vergangenheit, die er nicht selber erleben kann. Nur dank menschlicher Sprachlichkeit kann sich der Archäologe, wie jeder andere Mensch auch, etwas vorstellen, das so lange vor ihm mal da war. Die Vergangenheit, kann man nun sagen, existiert in unserer Vorstellung nur so weit wie die Sprache, mit der wir sie beschreiben, also begrifflich auffassen können.

Dass der Historiker nun, im Gegensatz zum Archäologen, auch und ja vor allem mit schriftlichen Quellen arbeitet, die ebenfalls durch Sprachlichkeit gekennzeichnet sind, macht alles umso viel komplizierter. Denn der Archäologe hat nur gegenüber seiner eigenen Sprache, den von ihm bei der Auffassung und Auswertung der Funde verwendeten Begriffen, kritisch und bewusst zu sein; der Historiker hingegen sowohl gegenüber seiner eigenen Sprache als auch gegenüber der Sprache aus der spezifischen Vergangenheit, die er erforscht (daher die Notwendigkeit historischer Wörterbücher).

Es gibt aber noch etwas, was den Historiker umso sensibler für Sprache machen muss: Weil er sich in der Regel nur solchen Vergangenheiten widmet, die sich durch schriftliche Quellen von anderen abheben, fokussiert er sich auf eine sehr späte Phase in der Entstehung des Menschen, in der die menschliche Welt schon wesentlich komplizierter war als vorher. Der Archäologe, der eine 10.000 Jahre alte Schicht erforscht, setzt sich bei der Darstellung dieser Vergangenheit mit ziemlich einfach Fragen (was nicht bedeutet, dass sie leicht zu beantworten sind): Was haben die Menschen angebaut, gezüchtet und gegessen; wie sind sie mit ihren Toten umgegangen; wie haben sie gewohnt, wie viele in der Siedlung gewesen sein könnten usw. Anders ist es bei dem Historiker, der sich einer wesentlich späteren Vergangenheit, die bereits auf vielen abstrakten Begriffen basiert wie etwa »Gesellschaft«, »Nation«, »Arbeiterklasse«, »Demokratie« – um nur wenige aus dem 19. Jahrhundert zu nennen (dasselbe Prinzip trifft natürlich bereits auf die Antike zu).

Ohne solche Abstrakta, also ohne die sprachliche Fähigkeit dazu, wäre der Mensch nie so weit gekommen, weil nicht in der Lage gewesen, solch komplizierte Zusammenhänge zu begreifen und mit ihnen umzugehen; auch dem Historiker ermöglicht erst die sprachliche Abstrahierung, sich im Geiste an eine komplizierte Vergangenheit anzunähern. Doch die Sprache macht uns nicht nur mächtiger, sondern auch schwächer: Wenn wir uns ihrer Wirkung nicht bewusst werden, sind wir für Fehler anfällig, die man gemeinhin »anachronistisch« nennt. Etwa dann, wenn wir den antiken, altgriechischen Demokratiebegriff auf das 19. Jahrhundert anwenden – oder auch umgekehrt. Die Sprache, die uns mit diesem abstrakten Begriff überhaupt die Macht zu einer solchen Vorstellung gibt, kann uns mit eben dieser Macht auch dazu verleiten, den Begriff selbst zu verselbständigen, als ob er nicht dem jeweiligen Zusammenhang unterliegen würde, sondern eine eigene, quasi absolute Existenz führen könnte.

In der Sprache, in ihrer großen Macht und vielen Tücken, steckt ein weiterer Grund, weshalb kein Historiker eine objektive, »absolut« gültige Geschichte schreiben kann: Sobald er von der Sprache Gebrauch macht, sind Relativität und Subjektivität mit im Spiel – und zwar nicht er, wenn er über eine Vergangenheit schreibt, sondern schon, wenn er sich diese Vergangenheit vorstellt, an sie »zurückdenkt«, über sie nachdenkt; all das wäre dem Menschen ohne die sprachliche Abstrahierung gar nicht möglich.

Diese unausbleibliche Befangenheit des Denkens (geschweige denn des Schreibens) in Relativität und Subjektivität wird umso größer, je abstrakter das Thema wird. Wie sehr es auf die eigene, persönliche Perspektive ankommt, wenn man z. B. über den Anfang der Demokratie (oder von »Demokratie«) im modernen Europa und auch in Deutschland spricht, habe ich während meiner Hospitanz im Bundestag vor inzwischen sechs Jahren (wie schnell die Zeit vergeht!) hier im Blog veranschaulicht – und zwar mit einem Text, der den Titel trägt »Was heißt eigentlich “Geschichte”? Eine Betrachtung am Beispiel der Demokratie im Kaiserreich« und im jetzigen Rückblick eine kurze, zusammenfassende Vorwegnahme dieser Reihe zu sein scheint.

So kompliziert kann es also sein, wenn man mit Begriffen aus der Vergangenheit zu tun hat, die man notwendigerweise im Rahmen der eigenen Subjektivität zu verstehen versucht, ohne in die Subjektivität einstiger Autoren wirklich hineinblicken zu können. Allerdings bleibt es nicht dabei, denn der Historiker, der sich jetzt eine Vergangenheit vorstellt, tut dies natürlich in der Gegenwart; sein Denken, sein Vorstellungsvermögen unterliegt folglich nicht nur den alten, sondern auch gegenwärtigen Begriffen und Konzepten. Er benutzt seine sprachliche Fähigkeit als Mensch, um in seinem Geist aus der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück in die Gegenwart zu »reisen«; aber dabei bringt er durch eben diese Sprachlichkeit, die ihm die innere Reise erst ermöglicht, nicht nur die Vergangenheit in die Gegenwart, sondern nimmt auch die Gegenwart in die Vergangenheit mit. So muss es leider auch zu unwillkürlicher »Kontamination« kommen: seine Vorstellung, sein Bild von der Vergangenheit ist immer von seiner Denkweise in der Gegenwart geprägt.

Die Sprache ist also nicht nur eine Plattform, welche Vergangenheiten in die Gegenwart hineinträgt, sondern auch der geistige Raum, in dem sich unsere (per definitionem subjektive) Wahrnehmung dieser Vergangenheiten niederschlägt. Sprache enthält immer Geschichte. Sprache vermittelt Geschichte und zwar auch dann, wenn die Menschen, die miteinander sprechen, es gar nicht beabsichtigen. Im letzten Beitrag habe ich erklärt, wie die Verwendung von Ordinalzahlen in den Begriffen »Erster Weltkrieg« und »Zweiter Weltkrieg« unweigerlich einen Zusammenhang herstellt, eine Interpretation und eine Erzählung – kurzum, eine Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes. Diese Geschichte, nämlich die Wahrnehmung beider Kriege in einem gemeinsamen, nachträglich zurückprojizierten Zusammenhang, ist, ob es den Menschen bewusst ist oder nicht, immer und überall präsent, wo sie von diesen Begriffen Gebrauch machen.

Jede Epoche benutzt die Sprache in ihrem Sinne, führt neue Begriffe ein und deutet andere um. Eine Geschichte, die ein Historiker über eine spezifische Vergangenheit schreibt, zeugt folglich nicht nur davon, wie er diese spezifische Vergangenheit wahrnimmt und versteht, sondern auch von seiner eigenen Zeit, von dem sozialen, geographischen und kulturellen Zusammenhang, der sich in der Sprache des Autors widerspiegelt.

Denken wir etwa an den Begriff »Holocaust« im heutigen, übertragenen Sinne der NS-Judenverfolgung (im Gegensatz zu seinem ursprünglichen, alttestamentarischen Sinn als Opfergabe im jüdischen Tempel): Eine Geschichte, deren Sprache diesen Begriff enthält, kann – so paradox dies auch klingen mag – unmöglich in der Zeit und an den Orten entstanden sein, auf die der Begriff verweist. Denn in jener Vergangenheit, die den ursprünglichen Zusammenhang bildet, nämlich in Europa während des Nationalsozialismus, war dieser Begriff im heutigen Sinne nicht einmal bekannt.

Mit dieser Vergangenheit, auf die sich der Begriff bezieht, hat er bestenfalls indirekt zu tun. Er stammt aus einer anderen, späteren Zeit, die ihn umgedeutet, dem ursprünglichen Zusammenhang entrissen und einem neuen zugeschrieben hat. Darum ist er kein »historischer« Begriff im gängigen, eigentlich falschen Sinne, nämlich dem eines Wortes, das aus der Vergangenheit stammt; denn in diesem Sinne ist »Holocaust« ein ausgesprochen a-historischer, anachronistischer Begriff.

Nun könnte man sich denken: Wenn der Begriff eben nicht aus der »Echtzeit« stammt, sondern in einer gewissen Distanz zu ihr steht, kann er von den Historikern vielleicht dazu verwendet werden, über diese Distanz eine gewisse Neutralität zu ermöglichen. Doch dem ist freilich nicht so. Zwar gehört er nicht in die Zeit, auf die er Bezug nimmt, dafür aber in eine Zeit, von der aus Bezug genommen wird. Und so ist sowohl der Historiker, der einen solchen Begriff verwendet, in der Subjektivität seiner eigenen Zeit befangen. Es gibt keine »wertneutrale« Verwendung von Begriffen, weil sie selbst nicht wertneutral sein können.

So enthalten Begriffe wie »Holocaust« oder »Schoa« ganze Paletten von Deutungen und Bewertungen. Indem sie auf ein früheres Geschehen Bezug nehmen, interpretieren sie es auch. Wie jeder andere Begriff fungieren sie in der Sprache als Gefäße, mit denen Sinngebungen, also wiederum Geschichten, vermittelt und tradiert werden. In diesem Sinne kann das Wort »Holocaust« nun sehr wohl als ein »historischer« Begriff verstanden werden, weil es eine ganze Geschichte in sich birgt, eine deutende, kontextualisierende Erzählung über eine spezifische Vergangenheit. Eigentlich enthält der Begriff so viel, dass man ihn ruhig auch als ein Denkmal, als ein allgegenwärtiges Monument verstehen kann.

Doch aufgrund der Schichtung der Geschichte ist der historische Begriff inzwischen nicht nur Geschichte bzw. eine Bezugnahme auf die Vergangenheit, sondern auch selbst eine Vergangenheit geworden – und zwar in einem anderen, späteren Zusammenhang als derjenige, in dem er entstand. Erforschen wir heute, vom 21. Jahrhundert aus zurückblickend, nicht den Völkermord unter dem NS-Regime selbst, sondern etwa die Geschichten, die in den 1980ern über den Völkermord entstanden und diesen verarbeiteten, so haben wir nunmehr mit jener Vergangenheit zu tun, in die der Begriff »Holocaust« wirklich gehört; diese spezifische Vergangenheit bzw. ihre Sprache enthält ihn bereits.

Darum braucht der handwerklich gute Historiker nicht nur ein reges historisches Bewusstsein, eine sog. historische Musikalität, sondern auch ein ausgesprochenes Feingefühl für Sprache und für die Wirkung von Begriffen. Gemeint ist hier sowohl ihre Wirkung im Rahmen der jeweiligen Vergangenheit, die er erforscht, als auch – ja vor allem – ihre unweigerliche Einflussnahme auf sein eigenes Denken und auf sein Bild von dieser Vergangenheit. Und nicht zuletzt sollte auch sein kritischer Leser diese Problematik im Auge behalten.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

Schreibe einen Kommentar